Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
große Burg besucht haben, die komplett barrierefrei war. Man konnte sich überall hinbewegen, alles sehen ... Das kannte ich von Deutschland nicht. Wenn du zum Beispiel auf die Veste Otzberg im Odenwald fährst, kommst du gerade mal bis in den Burghof. Danach
kannst du deinen Lieben nur noch winken, während sie ohne dich auf den Turm hochkraxeln und die Aussicht genießen.
Meine Reise nach Kanada war die erste richtig große Reise, die ich nach meinem Unfall gemacht habe. Die Planung hat eine Bekannte durchgeführt, eine deutsche mit einem kanadischen Freund. Sie hat eine rollstuhlfahrende Schwester und hat Wissen über die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung. Sie hatte sich einmal komplett vor Ort vorinformiert, war zu ihrem Freund geflogen und hatte gecheckt, was Menschen mit Handicap dort unternehmen können. So hat sie quasi ihre eigene Behindertenreise kreiert. Und ich gehörte zu einer Gruppe von Leuten, die davon profitiert haben.
Die Reise war ein Erlebnis, auch wenn sie keine wirkliche Aktivreise war. Aus heutiger Sicht würde ich sie eine typische Behindertenreise nennen. Man mutete uns nicht sehr viel zu und wir wurden ständig mit einem Van herumgefahren, worunter leider die Flexibilität litt. Auch die Organisation der Mahlzeiten war verbesserungswürdig. Es gab fast immer Fast Food, selten Gesundes. Aber wenn man von Lodge zu Lodge unterwegs ist, muss man sich mit dem begnügen, was am Straßenrand zu finden ist.
Dennoch ist Kanada jede Reisestrapaze wert. Wir haben wunderbare Landschaften gesehen, sind auf einem riesigen Segelschiff auf dem Atlantik gefahren. Alles, auch die Museen und Sehenswürdigkeiten, war gut zugänglich. Und direkt in der Stadt, in Halifax, war alles wesentlich barrierefreier als bei uns. In jedem Pub oder Restaurant konnte man davon ausgehen, dass eine behindertengerechte Toilette vorhanden war. Ein beispielhaft barrierefreies Land! Vor allem die Denkweise in den Köpfen der Menschen. Da liegt hierzulande noch so einiges im Argen.
Vor dieser Reise nach Kanada war ich einmal nach Gran Canaria geflogen, in eine Ferienanlage, die im Katalog als behindertengerecht beschrieben war. Vier Jahre nach meinem Unfall war das, 1996. Das war spannend, denn damals hatte ich noch überhaupt keine Reiseerfahrung als Behinderter und glaubte unbedarft, was da im Katalog stand. Für meinen Freund René, der mitreiste, war es aber noch viel spannender: Er ist querschnittsgelähmt und für ihn musste vor Ort noch mehr organisiert sein als für mich. Auf Gran Canaria waren es damals nicht nur 35 Grad im Schatten, sondern die Anlage lag auch noch auf einem Berg. Es ging erst einmal eine Viertelstunde abwärts, bis man im Ort ankam, wo es wenigstens ein bisschen Infrastruktur und städtisches Leben gab. Man wollte ja auch gern mal an der Promenade entlang schlendern. Damals hatten wir uns vorher keine Gedanken über so etwas gemacht – die Angestellte im Reisebüro übrigens auch nicht. Wir wollten einfach in eine barrierefreie Ferienanlage, Punkt. Und barrierefrei war diese auch wirklich, wir kamen überall hin, es gab Rampen, wir konnten in den Pool und so weiter. Das Problem war, sich von der Anlage weg- und wieder hinzubewegen. Ein behindertengerechter Zugang zur Innenstadt, an den hatte da wohl keiner gedacht. Wir wollten aber natürlich niemanden fragen, ob wir jetzt mal raus dürften aus der Anlage. Wir wollten einfach unabhängig sein und die Insel auf eigene Faust erkunden. Als wir schließlich unten waren und nach zwei bis drei Stunden wieder hoch wollten, zurück in die Anlage, wurde es interessant. René musste von meiner damaligen Freundin, die zum Glück dabei war, geschoben werden, sonst wäre er nicht wieder hoch gekommen. Ich selbst habe mich irgendwie hochgequält. Als wir dann oben waren, hatten wir beide rabenschwarze Hände vom Asphalt, der sich in der Gluthitze von der Straße über die Greifringe auf unsere Handflächen
verteilt hatte. Diese Temperaturen – wir kamen völlig ausgelaugt wieder oben an. Das war unser einziger Ausflug in diesem Urlaub. Nach diesem Höllentrip blieben wir schön brav in unserer barrierefreien Anlage. Am Pool liegen, schwimmen, lesen und essen, so verbrachten wir die restlichen Urlaubstage.
In den Folgejahren war ich dann oft auch zu Trainingszwecken auf Lanzarote. Hier mussten Berge nur erklommen werden, wenn man es selbst tatsächlich wollte. Alles andere war ebenso wie auf Gran Canaria keine Schwierigkeit und man konnte in Ruhe
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