Blüten, Koks und blaues Blut
„Außerdem habe ich mich niemals an
den Briefmarken von Monsieur vergriffen!“
„Nur an den Zigarren, das werden Sie doch
zugeben, oder?“
„Weder an den Briefmarken noch an den Zigarren,
Monsieur.“
„Hatte der Graf Sie kurz vor seinem Tod
beauftragt, seinem Notar eine Nachricht zu überbringen?“
„Die Kanzlei von Maître Dianoux befindet sich in
Nizza“, mischte sich Robert de Fabrègues ein. „Es wäre meinem Bruder nicht in
den Sinn gekommen, Joseph dorthin zu schicken. Warum auch?“
Ich klärte ihn über die Sache mit den
fünftausend Francs auf. Zur Illustration zauberte ich den Brief hervor.
„Aber...“ stammelte er verwirrt, „wie konnte er
Maître Dianoux benachrichtigen?“
„Ihr Bruder hat seinen Entschluß nach
Pellegrinis Besuch gefaßt. Joseph versichert uns, daß Monsieur das Haus danach
nicht mehr verlassen hat. Bleibt also nur der Postweg. Eine der drei fehlenden
Marken hat den Weg freigemacht.“
„Monsieur hat mir keinen Brief gegeben“,
beharrte Joseph, bereit, sich für meine Andeutungen zu revanchieren.
„Einen Brief in den Briefkasten zu werfen, ist
keine Arbeit, die man nicht selbst erledigen könnte. Monsieur de Fabrègues hat
die Briefe in der Nacht geschrieben...“
„Die Briefe?“ hakte der Bruder ein.
„Ja, wenigstens drei“, präzisierte ich.
„Das wäre möglich“, meldete sich Joseph wieder
zu Wort. „Monsieur hat das Haus für einen kurzen Augenblick verlassen, war aber
sofort wieder zurück. An der nächsten Straßenecke befindet sich ein
Briefkasten.“
„Wann genau?“
„Ungefähr um zehn Uhr.“
„Waren Sie schon zu Bett gegangen?“
„Nein, Monsieur.“
„Wußte Ihr Herr das?“
„Er nahm es bestimmt an. Ich pflege nicht vor
Mitternacht zu Bett zu gehen.“
„Warum hat er Sie dann nicht mit dieser Aufgabe
betraut?“
„Das kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich wollte
er noch etwas frische Luft schnappen.“
Plötzlich mußte ich an die Schießerei vom Vortag
denken, an die Wasserpfütze und an das, was mir René Leclercq erzählt hatte.
„In der Selbstmordnacht hat es doch ein Gewitter
gegeben, nicht wahr? Hat es geregnet, als der Graf kurz das Haus ver-
ließ?“
„Aber... Aber ja!“ rief der Butler, so als hätte
er soeben das Perpetuum mobile entdeckt. „Daran habe ich gar nicht gedacht! Die
Ereignisse bringen mich ganz aus der Fassung, Sie verstehen...“
„Dann fassen Sie sich wieder“, bat ich ihn. „Glauben
Sie, der Graf ist bei dem Wetter zum Vergnügen spazierengegangen?“
„Jetzt, wo Sie das sagen... Sicherlich nicht.“
„Dann werden ihn wohl dringende Gründe dazu
veranlaßt haben“, schloß ich.
„Ich glaube, Sie messen dem eine zu große Bedeutung
bei“, ließ sich Robert de Fabrègues vernehmen. „Normalerweise wäre mein Bruder
bei einem Gewitter nicht ausgegangen. Aber wenn man entschlossen ist, seinem
Leben ein Ende zu setzen... Wenige Stunden vor der endgültigen Tat...“
„Ich habe eine gewisse Erfahrung mit
Selbstmördern“, bemerkte ich trocken. „Einer meiner besten Freunde hat einmal
einen Versuch unternommen. Wie durch ein Wunder hat es nicht geklappt, und
hinterher hat er uns seine Erfahrungen geschildert. Wissen Sie, welcher Sache
er die größte Bedeutung beimaß? Und zwar nicht ein paar Stunden, sondern fünf
Minuten vor der endgültigen Tat, wie Sie und der Philosoph es nennen? Einem
winzigen Fettfleck, der im Restaurant aufs Revers seines Jacketts gespritzt
war! Denn, und das ist auch sehr interessant, er hatte das Bedürfnis verspürt,
gut zu essen, bevor er den großen Sprung wagte. Der Fettfleck machte ihm
Kummer, und das einen Augenblick, bevor er sein Jackett mit seinem eigenen Blut
versaute! Selbstmordkandidaten sind nämlich sonderbare Leute, müssen Sie
wissen...“
„Zugegeben“, gab er zu. „Welches waren demnach
die dringenden Motive meines Bruders, durch das Gewitter selbst zum Briefkasten
zu gehen?“
„Bei dem Empfänger eines der Briefe handelt es
sich um eine Person, dessen Adresse er seinem Butler nicht zur Kenntnis bringen
wollte.“
Schöner kann man es einfach nicht sagen! Dennoch
protestierte Joseph gestenreich und verbürgte sich für seine Diskretion. Ich
versicherte ihm sogleich, daß ich ihn nicht der Neugier verdächtigte, es aber
für ganz natürlich hielte, einen Blick auf einen Brief zu werfen, den man in
der Hand habe. Und das sei offensichtlich das gewesen, was der Graf habe
verhindern wollen.
„Der zweite Brief“, fuhr ich
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