BLUFF!
Analyse« zumindest authentisch kennenlernen, um mir einen besseren Eindruck zu verschaffen und nicht ungerecht zu urteilen. Schlimmstenfalls hätte ich dann wenigstens zu den Gebildeten unter ihren Verächtern gezählt. So hatte ich einen bedeutenden Psychoanalytiker in München aufgesucht, um ihn zu fragen, wo es denn seiner Ansicht nach noch einen großen Analytiker gebe, bei dem ich meine Ausbildung absolvieren könne. Die Antwort war nicht allzu berauschend. Er schwärmte zwar von dem berühmten Analytiker, bei dem er selbst zehn Jahre lang auf der Couch gelegen habe, aber auf meine Frage müsse er mir leider mitteilen, dass es heute keine großen Therapeutenpersönlichkeiten mehr gebe, die seien alle tot. Na ja, da gebe es noch einen, der vertrete aber einige abweichende Thesen und werde daher von fast allen anderen Analytikern gemieden. Wenn ich bei dem meine Ausbildung machen würde, würde ich anschließend von rechtgläubigen Analytikern wie ein Sektenanhänger behandelt. Am besten solle ich einfach die Schriften Sigmund Freuds lesen und mir dann irgendein beliebiges Institut suchen, um die nötigen Bescheinigungen zu erhalten. Das war ernüchternd, aber vielleicht gar nicht schlecht, denn so konnte ich mich unbefangener ans Werk machen.
Ich las Freud. Und war enttäuscht. Allenthalben hatte ich gehört, dass Freuds Texte von großer Schönheit und Tiefe seien. Doch was ich las, schien mir weder schön noch tief. Als Theologe hatte ich mir natürlich sofort seine religionskritischen Schriften »Totem und Tabu« und »Die Zukunft einer Illusion« vorgenommen. In »Totem und Tabu« wurde auf der Grundlage im Wesentlichen nur einer Literaturangabe (J. G. Frazer) aus dem phantasierten Vatermord der Ur-Rotte in sich wiederholenden immer neuen Anläufen eine ganze Welt hergeleitet, nicht bloß die Religion, die Moral, die Kultur, sondern auch all unser neurotisches Getue. Für ein wissenschaftliches Werk war mir das erheblich zu spekulativ. Es fehlten vor allem schlüssige Argumente. Und schön fand ich das allzu breite Auswalzen einer einzigen These auch nicht gerade. Gewiss, seine therapeutischen Schriften hatten dann sozusagen mehr lebendiges Fleisch an den ideologischen Knochen. Doch die ganz wenigen, ziemlich speziellen Fälle, aus denen Freud seine höchst weitreichenden allgemeinen Schlüsse zog, einerseits und das Offenbarungspathos andererseits, mit dem der Meister diese Erkenntnisse dann als die eigentlichen geheimen Wahrheiten ausgab, die hinter allem alltäglichen Schein lägen, ließen meine Skepsis wachsen und verdarben mir die Freude an Freud.
Mit der praktischen Ausbildung war es dann nicht viel besser. Anfangs fand ich es noch lustig, wie bierernst da immer wieder bei jeder sich bietenden Gelegenheit Freud zitiert wurde, wie man bei noch so geringen Abweichungen von der klassischen Form sich beflissen rechtfertigte, man habe da einen späten Brief von Freud gefunden und da habe Freud doch tatsächlich berichtet, er habe seinem Patienten noch ein Butterbrot geschmiert, was doch eigentlich gegen alle Regeln verstoße. Aha! Niemand wäre natürlich auf den empörenden Gedanken gekommen, daraufhin trotzdem immer noch zu finden, dass es keine gute Idee sei, mit seinen Patienten nach der Therapiestunde gemeinsam essen zu gehen. Denn Freud selbst hatte es doch gesagt, und der Brief war unzweifelhaft echt, und der Freud sei ja viel lockerer, als viele immer behaupten würden, und wie der demütigen Lobpreisungen sonst noch waren. Freud jedenfalls war die Offenbarung, seine Texte waren heilige Schriften, und wer das nicht so sah, war dumm oder ein abgefeimter Ketzer.
Irgendwie kannte ich solches Gehabe aus der Religionsgeschichte. Und Freud selbst hatte tatsächlich viel dafür getan, die Psychoanalyse wie eine Religionsgemeinschaft zu etablieren. Er gab seinen Meisterschülern Ringe, wie sie in der katholischen Kirche die Bischöfe tragen, er ließ Konzilien abhalten, die nur dann gültige Beschlüsse fassen konnten, wenn er, der »Papst«, zustimmte, er sprach Exkommunikationen aus, wie über C. G. Jung, seinen phantasievollen, unbotmäßigen Meisterschüler. Also alles in allem: nichts Neues unter der Sonne.
Mehr und mehr wurde mir klar, dass mit der Welt etwas nicht stimmte, in die ich da eingetaucht war. Für eine Therapiemethode jedenfalls fand ich den unfehlbaren Habitus, mit dem hier irgendwelche »Wahrheiten« verkündet wurden und alles andere in Bausch und Bogen der Verdammnis
Weitere Kostenlose Bücher