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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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weißt du?«
    Friedel flüsterte: »Manchmal hab ich auch an ihn gedacht. An Jockel. Auch an seinen älteren Bruder.«
    »Helmuth.«
    »Heißt er so?«
    Sie schwiegen eine Zeit.
    An Schlaf war nicht zu denken. Reni grübelte. Es wäre klüger, Jockel nicht zu treffen. Wenn das Leid nicht unermesslich werden sollte. Vernünftig sein! Das tun und fühlen, was dem Papa entgegenkäme. Es war doch hässlich, dass sie ein Geheimnis vor ihm hatte. Er meinte es gut mit ihr, bemühte sich
um sie – und sie betrog ihn mit Gefühlen. Im Grunde schon im Krankenhaus mit Lydia von Treschke.
    »Ich schäme mich vor meinem Vater.«
    »Weiß er von Jockel überhaupt nichts?«
    »Um Himmels willen, Friedel! Wir fahren nach Berlin, er hat Pläne mit mir, er meint es wirklich gut, und ich betrüge ihn, verstehst du?« Der Vater gab sich Mühe und was tat sie? Sie dachte an die Lippen eines Jungen. »Mit einem Bauernlümmel, der sich auf der Flucht befindet!«
    »Dann sei vernünftig, Reni!«
    Reni lachte leise, hielt sich mit einer Hand den Mund zu. Noch nie war ihr der Wunsch nach der Erfahrung eines Kusses so bewusst geworden und so drängend. Es machte Angst.
    »Hast du schon mal mit geschlossenen Augen die Haut auf deinem Arm geküsst?«, fragte Friedel. »Du musst ein bisschen Öl drauftupfen, das soll sich echt anfühlen. Wenn du zwei Finger nimmst, sind es die dicken Lippen eines Negers …«
    »Igitt!« Das Kichern wollte gar kein Ende nehmen.
    Als Friederike eingeschlafen war, berührte Reni mit den Lippen ihren Arm, benetzte ihn, küsste ihn ein zweites Mal und fühlte einen Schauer. Erst in der Brust, dann auch am Hals, sonderbarerweise. Der Schauer stürzte in den Schoß, es tat ein bisschen weh, so überraschend süß und wühlend. Sie erschreckte sich und horchte nach den anderen, hörte das gleichmäßige Atmen und war froh, dass sie alleine war. Im Dunkeln, vollkommen außerhalb von allem, was sie je empfunden hatte. War es das, was Friedel »Liebesfieber« nannte?
    Reni wehrte sich nicht mehr, sie flog. Mit Jockel flog sie in den Himmel … Friedel, Friedel, wenn du wüsstest – wenn du wüsstest, was es Süßes in uns gibt!

Der Kuss
    J ockel wusste, wie er in den Krankenhauskeller gelangen konnte, dort befand sich eine Tür zur Straße. Der Arzt hatte dafür gesorgt, dass sie unverschlossen war, und hatte ihm einen Pullover und etwas Geld mit auf den Weg gegeben. Some money. You will need it .
    Es war früher Morgen, sonnig. Jockel hatte sich gewaschen, zog erst in dem Keller seine Schuhe an und schlich zu einer Treppe, die hinauf nach draußen führte.
    Natürlich klopfte ihm das Herz. Er hoffte, dass ihn niemand sah oder auf der Straße festhielt. Er ging geduckt, beeilte sich, versteckte sich in Gassen, hinter Zäunen, Lastwagen, tauchte durch einen Haufen Leute, die vor einem Marktstand warteten. Manchmal sah er Uniformen und erschreckte sich. Vor einem Kiosk sah er Zeitungen mit Fotos von den Spielen in Berlin, las sonderbare Namen: Kitei Son, Shoryu Nan und John Lovelock. Er dachte an Reni und hatte Angst vor dem, was auf sie beide zukam. Sie mussten Abschied voneinander nehmen.
    Er durchquerte Schrebergärten, Kleefelder, wich Fuhrwerken und Menschen aus. Fand immer wieder irgendein Versteck, blieb sozusagen unsichtbar und wurde immer trauriger. Es war, als hätte er die Pest – und bloß weil ihm ein Unglück zugestoßen war, weil dieser blöde Knecht nicht hatte an sich halten können. Jockel aß einen Apfel, den ihm Anneliese heimlich mitgegeben hatte. Sie hatte lange an der Tür gestanden, als er gegangen war, mit traurig schönen Augen. Dann war sie von der Oberschwester nach nebenan gerufen worden.

    Irgendwann hatte er Gut Haardt erreicht, verschwitzt und müde, aber freudig. Ein paar weggeduckte Dächer, dahinter hohe Buchen, die hellen Kronen des Obstgartens, schließlich auch die Hecke, in der er sich verstecken sollte. Leute sah er nicht, sie waren sicher auf den Feldern. Aus dem Kamin der Küche stieg nicht mal Rauch. Er lauerte für eine Weile ängstlich.
    Was ihm beim Näherkommen gleich ins Auge fiel, war das Auto: ein toller, schwarz glänzender Mercedes 130 mit glatt nach vorn gezogener Vorderhaube, weil der Motor im Heck saß – so etwas wusste Jockel aus den Illustrierten. Er wagte sich noch näher. Der Wagen stand frisch gewaschen an der Flanke eines Stalls, etwa dort, wo Jockel das Stoffband an einem der Fenster befestigen sollte, um Reni das verabredete Zeichen zu geben. Am Fußbrett

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