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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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mussten. Eine Fahne werde aufgezogen und gesungen, hatte Friedel mit verzogenem Mund erzählt.
Selbst Frau Misera sei nicht sehr begeistert, weil die beiden Neuen ihr schon ein paarmal Anweisungen erteilt hätten, statt umgekehrt. Außerdem wurden Luftschutzübungen durchgeführt. Dabei wurde viel geschrien, Trillerpfeifen kreischten schrill, und man zählte die Sekunden, die die Mädel brauchten, um fertig angezogen auf dem Hof zu stehen. »Bei Wind und Regen«, hatte Hilde eingeworfen. »Sei froh, dass du nicht länger bei uns wohnen musst.«
    »Kannst du deinen Vater nicht mal fragen, ob er weiß, wo Monika geblieben ist?« Karin wurde besonders leise. »Janka ist auch verschwunden. Wir fragen immer wieder nach, aber niemand gibt uns eine Antwort. Man will doch wissen, was passiert ist, ob man sich Gedanken machen soll. Dein Papa kann uns vielleicht helfen.«
    Reni versprach es, das war Ehrensache. »Er fährt einmal alle vierzehn Tage in die Stadt und trifft dort viele wichtige Leute. Einmal hat er mich schon mitgenommen. Aber vieles ist sehr schwierig und auf manches muss ich in Zukunft auch verzichten.« Es gebe eine Art Verzicht, hatte der Vater ihr gesagt, der sich aus einer höheren Warte in Gewinn verwandelte. Das klang wie der Gedanke, dass eine Lüge Wahrheit wird, sobald sie einem edlen Nutzen dient.
    »Ihr könnt bloß froh sein«, fuhr sie fort, »dass ihr nicht meine Rolle spielen müsst. Stellt euch das nicht so einfach vor, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Für die Malaria in Afrika zum Beispiel und den Mangel an Bettnetzen …«
    »Wie bitte?«, fragte Hilde.
    »Man schläft dort unter Netzen, damit man nicht gestochen wird«, rief Friederike leise. »Mensch, Hilde! Du hast ja wirklich keine Ahnung von der Welt. Die Wechselfieberkrankheit.«
    Reni erklärte, dass die Krankheit von Mücken übertragen wird. »Meine Eltern in Lambarene haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Zahl der Kranken in den nächsten Jahren zu halbieren. Es sterben viel zu viele Menschen dort. Diese Bettnetze sind genauso wichtig wie das Wellblech. Der Führer hat es mir versprochen: Demnächst geht eine Schiffsladung dorthin …«
    Sie stockte und fühlte sich mit einem Mal erschöpft. Als hätte die Malaria sie selbst erwischt. Vielleicht war es der Augenblick, als sie wieder »meine Eltern« sagte, das fühlte sich so seltsam an. Sie hatte die Geschichten immer gern erfunden, es hatte Spaß gemacht. Jetzt klang es schal, zu sehr erfunden, kindisch eigentlich. Sie fühlte sich nicht wohl dabei. Zum Glück würde der Fahrer morgen vor dem Mittagessen kommen, um sie abzuholen. Wenn ihre Freundinnen wüssten, was sie dachte, wären sie enttäuscht. Zu Recht.
    Sie nahm ihren Mut zusammen und sagte: »Gestern habe ich Jockel getroffen.«
    »Wie bitte?« Alle staunten.
    »Im Krankenhaus in Fulda. Fräulein Knesebeck und unser Brot-Korff haben ihn dort hingebracht. Er hatte hohes Fieber, jetzt geht es ihm schon besser.«
    »Was habt ihr euch gesagt?«, wollte Hilde wissen.
    Friedel flüsterte: »Wenn man ein Geheimnis hat und es ausplaudert, ist es keines mehr.«
    »Warum erzählst du es dann überhaupt?« Hilde ließ nicht locker. »Erst reizen und dann nichts mehr sagen!«
    »Hilde!«, drohte Karin. Aber auch sie kicherte. »Habt ihr euch geküsst?«
    »Bestimmt haben sie sich geküsst!«, rief Hilde.
    »Damit sich Reni ansteckt und nicht zum Führer fahren kann?«, schimpfte Friederike. »Du Spatzenhirn.«

    Alle lachten. Zwei jüngere Mädchen, die schon schliefen, maulten durch die Dunkelheit herüber.
    Es störte Reni, dass die Dinge sich mit dieser Schnelligkeit veränderten. Sie hoffte, dass die Wogen in Berlin ein bisschen flacher wurden und dass der Vater dort Beständigkeit und Ruhe in ihr Leben bringen würde.
    Später, als die anderen eingeschlafen waren, fragte Friederike plötzlich: »Liebst du ihn? Fühlt es sich schön an? Trefft ihr euch?«
    »Ein einziges Mal noch, dann nie wieder«, sagte Reni und begriff im Reden, was sie sagte. »Ich habe ein anderes Leben, Friedel. Jockel will nach Hamburg und dort Seemann werden. Es tut so weh.«
    »Und habt ihr euch geküsst?«
    »Bist du verrückt?«
    »Ich möchte so gern wissen, wie es ist.«
    Die Idee ließ Reni nicht mehr los. Sie wünschte sich so sehr, Jockels Lippen zu berühren. Sie stellte es sich vor. Tröstlich, dass auch Friedel Sehnsucht danach hatte.
    »Ich stelle es mir vor wie …«, sagte Reni. »Manchmal kann ich überhaupt nicht schlafen,

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