Blumen für den Führer
hoch. Es war ein sonderbarer Blick, der Waltraut plötzlich neue dunkle Angst einjagte. »Ach, jetzt habe ich das Wasser stehen lassen«, fügte er hinzu.
»Ist nicht schlimm … Was war das für ein Schrei?«
»Wie bitte?«
»Gerade eben.«
Er schüttelte den Kopf. Als aus dem Gebäude ein zweiter Schrei in Waltrauts Herz traf, schwieg sie ängstlich. Vorsichtshalber. Der Mann tat nicht die kleinste Regung, er hörte keinen Schrei, er blickte nicht mal hoch.
»Hier gibt es sogar Tee«, sagte er nach einer Weile.
Was Waltraut am meisten quälte, war, dass sie nicht einfach fortgehen konnte. Der Imker draußen schob die Wabenplatte in den Stock zurück. Der Rauch der Pumpe breitete sich aus und schmolz.
»Sie dürfen sich nicht ängstigen.«
Das war das Zeichen! Das hätte er nicht sagen sollen! Jetzt wusste sie, dass die Gefahr noch größer war, als ihre Angst sie ahnen ließ. Sie rieb die Hände langsam aneinander, sie waren feucht.
»Bestimmt ist alles nur ein dummer Irrtum«, sagte er. »Was denken Sie, wie viele Leute ich schon hab kopfschüttelnd hier rausgehen sehen? Es gibt ja schließlich üble Verleumder.« Er blätterte und schrieb. »In Wirklichkeit ist dann alles anders … Na ja, das sagt man so.« Er lächelte und zuckte mit den Schultern.
Beim dritten Schrei legte er den Kopf etwas zur Seite und tat, als horche er. Dann sagte er, als wollte er sich selbst etwas bestätigen: »Nein, nein. Sie machen es sich viel zu schwer. Soll ich Ihnen Wasser holen? Oder lieber Tee?«
»Nicht nötig«, sagte Waltraut und dankte. Sie verstand ihn nicht, hätte ihm gerne gesagt, dass ihre Angst nur größer wurde. Aber ihr Vertrauen schmolz mit jedem seiner Worte, ohne dass sie hätte sagen können, wie es kam.
»Wenn man sich nichts hat zuschulden kommen lassen«, sagte er, »braucht man auch nichts zu fürchten. Und nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen. Sie wissen schon.«
Was?, wollte sie fragen, schwieg jedoch. Die Tür wurde geöffnet. Jemand führte eine Frau ins Zimmer und zog einen Hocker aus einem Winkel neben dem Aktenschrank. Die Frau konnte sich kaum auf den Beinen halten. Waltraut sprang auf und stützte sie. Die Arme setzte sich, sie stöhnte gepresst, als wollte sie nicht, dass man es hörte. Ihr Gesicht war grün und blau. An ihrem Mund klebte Blut. Waltraut konnte den Blick nicht eine Sekunde abwenden.
Der Beamte, der die Frau hereingeführt hatte, sah Waltraut an. »Es dauert nicht mehr lange, gleich holt Sie jemand ab.« Er ging hinaus und ließ die Tür zufallen.
Der Mann hinter dem Schreibtisch zog ein Aktenbündel hervor und schlug es auf. »Frau Goldschnigg, Sie müssen noch eine Erklärung unterschreiben, die der Kollege gleich hereinreicht.«
Waltraut hatte eine Hand auf den Arm der Frau gelegt. Als sie ihren Arm fortziehen wollte, hielt Waltraut ihn behutsam fest. Sie blickte den Beamten an, er nahm es wahr.
»Sagen Sie etwas!«
Er schwieg.
»Sie haben gewusst, dass man sie schlägt.« Waltraut schämte sich für ihre Feigheit. Es wäre richtig, aufzustehen und dem Beamten ins Gesicht zu schlagen.
Die Frau war älter als sie selbst, hatte tiefe, große dunkle Augen. Unter dem linken wölbte sich eine Schwellung. Ihr Ausdruck war so traurig, dass Waltraut jeden Mut verlor, etwas Tröstendes zu sagen. Die Hände zitterten, die Lippen bebten. Sogar im Sitzen schien es ihr nicht leichtzufallen, sich aufrecht zu halten und nicht hinzustürzen. Waltraut ließ den Arm nicht los.
»Sehe ich in einer Stunde auch so aus?«
Er schaute nicht mal hoch.
»Antworten Sie!«
»Sie nehmen sich zu wichtig, junge Frau«, hauchte er mit seiner weichen Stimme.
»Wieso sind Sie freundlich zu mir? Warum holen Sie mir Wasser? Ich verstehe Sie nicht. Was denken Sie sich denn?«
»Ich bin Ihnen keine Auskunft schuldig.«
»So etwas versteht niemand, hören Sie?« Sie merkte, dass sie weinte. Erst wollte sie es leise tun, er sollte es nicht wissen oder sehen. Dann war es ihr egal. Sie hielt den Arm der Frau fest. Frau Goldschnigg. Waltraut hielt sich an ihr fest, legte den Kopf zur Seite und fühlte das verwirrte Haar. Sie weinte einfach, ließ die Tränen laufen. Waltraut verstand nicht, was mit ihr passierte. Empfand nur Enttäuschung und Traurigkeit über so viel Böses. Sie hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren.
Fühlte die Schmerzen dieser fremden Frau, wollte mitempfinden. Einerlei, was mit ihr selbst geschehen würde. »Gleich holt Sie jemand ab.« Die Worte klangen in ihr
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