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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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hatte. Die beiden Mädchen beeilten sich jetzt ebenfalls.
    Der Pilot rief ihnen nach: »In ein paar Tagen beginnen in Berlin die Olympischen Sommerspiele und alle Welt schaut zu, Junge. Das wird der Anfang einer neuen Epoche des Fliegens. Während der Olympiade nächste Woche hat das Segelfliegen
eine eigene Schauvorstellung in Berlin. Sag das deinem Vater! Und wenn du Lust hast, komm rüber auf die Wasserkuppe. Ich sag’s dir: Wir brauchen jetzt jeden fähigen Mann dort oben!«
    Jockel drehte sich halb um und nickte zurück.
    Der Bruder war ins Feld gegangen und hob den Wasserkrug an den Mund. Nach ihm trank Jockel. Reni sah ihn trinken und fühlte ihren trockenen Gaumen. Der Bruder kehrte in das andere Feld zurück und alle bückten sich wieder und stießen die Unkrautstecher in die Furchen. Im Himmel rief ein Bussard. Reni schaute hoch und sah, dass auch der Junge in die Höhe spähte. Jockel.

Hausmeister Kiank
    W enn es etwas gab, das Waltraut verabscheute, dann waren es die wöchentlichen Kontrollen der Schränke und Bettkonsolen. Statt es im Beisein der Mädel zu tun, wurde alles heimlich hochgehoben und durchwühlt. Die Kinder wussten es, und gerade das machte es für Waltraut noch erbärmlicher, wenn sie daran dachte, dass man Vertrauen wachsen lassen müsse, wie es die Misera nannte. Die »Wochenkontrolle« fand während der Schulstunden statt oder, wie jetzt in den Ferien, bei gemeinsamen Arbeitseinsätzen außer Haus.
    Sie öffnete eine Schranktür nach der anderen, schlug sie laut zu, zog Schubladen heraus und rückte Betten, dass es quietschte, damit die Misera es in ihrem Büro unten im ersten Stock hörte und beruhigt sein konnte. Wovor hatte die Leiterin denn Angst? Auch die Kollegin Kaul und die anderen nahmen
die Kontrollen ernst, lasen Tagebücher, fanden heimlich versteckte Süßigkeiten, die sie konfiszierten und zur Leitung trugen, wo man penibel Buch darüber führte – »falls es einmal Geld sein sollte, dessen Herkunft unklar ist«.
    Es war nie Geld und Waltraut schämte sich für alle anderen. Aber sie hatte keine Wahl. Die Pflicht zur Wochenkontrolle war mit als Erstes von Frau Misera genannt worden, als Waltraut seinerzeit die Stelle angenommen hatte. »Geheimnisse sind unerwünscht.« Aber gibt es eine Kindheit oder Jugend ohne?
    Sie dachte an Oskar, ihren Igel. Das Tier war eines Tages aus dem Garten die wenigen Stufen der Kellertreppe hinuntergepurzelt und nicht wieder heraufgekommen. Waltraut hatte ihn gefunden und sofort geliebt. Sie hatte ihn in einem Wandloch versteckt, gefüttert, ihm alles erzählt, was schön und was traurig war. Ihr großes Geheimnis. Dann hatte sie den Fehler begangen, es einem Lehrer zu sagen, der es ihren Eltern verriet. Das war natürlich Oskars Rettung. Sie musste den Igel aus seinem Gefängnis holen, das für sie sein »Häuschen« war. Sie war enttäuscht, gekränkt und hatte lange nicht einsehen wollen, dass Igel so nicht leben können.
    Waltraut kam zu Renis Schrank und Bettkonsole, schlug die Türen auf und zu. Sie kannte das Versteck mit den ausgeschnittenen Zeitungsfotografien. Sie hatte die Schachtel zufällig entdeckt. Die Chance, dass sie auch von ihren Kolleginnen gefunden wurde, war gering. Waltraut nahm an, dass Reni glaubte, die Bilder seien bislang unentdeckt geblieben. Sie hoffte es und stellte sich die Frage, was mit Reni passierte, in ihrer Seele, wenn sie erfuhr, was schon in einer Woche auf sie zukam. Entweder geschah etwas Schicksalhaftes oder etwas so Banales, dass es keiner Sorge wert war. Hoffentlich wurde
aus alldem eine Erinnerung, die Reni in vielen Jahren nicht ohne Stolz ihren Enkelkindern erzählen konnte: Ich habe dem Führer die Hand gegeben, neunzehnhundertsechsunddreißig, da war er noch jung und es herrschte noch manche Not am Anfang … Waltraut schob ein paar von Renis Wäschestücken zurecht, ordnete einen kleinen Stapel ihrer Leibchen und legte eine Strickjacke neu zusammen.
    Auf Renis Bett lag eine Bluse, die sie vielleicht vor dem Schmutz der Feldarbeit hatte bewahren wollen und schnell noch ausgezogen hatte. Waltraut hatte sie beim Hereinkommen schon gesehen und immer wieder hingeblickt. Der Stoff hatte kleine, schwache Farbkaros und schimmerte, wenn er sich im Sonnenlicht bewegte. Den Schimmer hatte sie entdeckt, als Reni die Bluse einmal getragen hatte.
    Waltraut nahm das Kleidungsstück in die Hand, führte es an ihr Gesicht und roch daran. Es war ein so wunderbarer Duft …
    »Fräulein Knesebeck?«
    Es war

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