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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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vielleicht.«
    Das Mädchen mit den braunen Zöpfen drehte sich immer wieder nach ihnen um und stieß seine Nachbarinnen an. Jockel hörte, wie sie kicherten.
    »Entstanden ist das Segelfliegen, weil uns die Siegermächte* nach dem Krieg verboten haben, Flugzeuge mit Propellern zu fliegen. Aber von Maschinen ohne Motor steht nichts im Versailler Schandvertrag*. Da oben auf der Wasserkuppe haben sie vor fünfzehn Jahren damit angefangen. Als ich geboren wurde.«
    »Ich stelle mir das schön vor, da unter den Wolken«, sagte Reni. »Wie weit kann man da sehen?«
    »Bis Fulda. Kein Problem. Wenn du über die Wolken kommen würdest, bestimmt bis nach Berlin.«
    »Nein.«
    »Klar doch.«
    »Und Afrika?« Reni sah ihn von der Seite an und lächelte verschmitzt. »Kennst du den Doktor Albert Schweitzer, den Urwaldarzt? Ich habe ein Buch von ihm gelesen. Eine unserer Erzieherinnen hat es mir geliehen. Ich mache das Abitur und studiere Medizin. Dann gehe ich zu den Negern nach Afrika und arbeite dort als Ärztin.«

    Jockel war so überrascht, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
    »In Afrika?«, fragte er und ärgerte sich, dass er sich so dämlich anstellte. »So richtig im Dschungel? Mannomann.«
    »Das Erste, was ich tun werde«, erzählte Reni, »ist, hier in Deutschland jemanden finden, der eine Menge Wellblech kauft und es mit einem Schiff nach Afrika bringt. Die Hütten, die Doktor Schweitzer am Ogowe-Strom vor über zwanzig Jahren gebaut hat, haben Dächer aus Gras, weißt du, und wenn es regnet … das kannst du dir ja denken …«
    Jockel sah sie an. »Hast du keine Angst vor Negern?«
    »Hast du Angst vorm Fliegen?«
    Er schwieg. Beeindruckt. »Aber als Mädchen lassen sie dich niemals dort hinfahren.«
    »Und dich lassen sie nicht fliegen«, entgegnete sie. »Obwohl du ein Junge bist. Zum Glück habe ich gar keinen Vater, gegen den ich mich durchsetzen müsste.« Plötzlich flüsterte sie. »Aber ich habe Fräulein Kaul …« Sie deutete nach vorne, wo die Erzieherin ging, und streckte ihr die Zunge heraus.
    Sie lachten.
    »Ich werde kein Abitur machen«, sagte Jockel. »Knechte haben Knechtskinder, die Knechte werden und wieder Knechtskinder machen.«
    »Ich würde gern mal mitkommen zur Wasserkuppe und zuschauen«, entgegnete sie. »Aber alleine dürfen wir nicht raus, das ist streng verboten. Wir sind ja Kinder«, setzte sie hinzu. »Waisenkinder.«
    Das Wort machte ihn verlegen.
    »Nein, stimmt gar nicht«, sagte sie plötzlich. »Mein Papa ist Arzt und meine Mama Krankenschwester. Sie arbeiten beide
für den Doktor Schweitzer, deshalb haben sie auch keine Zeit für mich …«
    Er sah sie an. Unsicher, ob sie die Wahrheit sagte. Ihr Lächeln war wunderschön und geheimnisvoll.
    »Glaubst du mir nicht? Doktor Schweitzer war eigentlich kein Arzt. Er wollte Theologe werden, aber da merkte er, dass die Menschen Jesus missverstanden haben. Er merkte, dass es nur eine einzige Kraft gibt, die uns alle bewegt: die Ehrfurcht vor dem Leben. Es kann auch eine Kröte sein, die in einem Erdloch sitzt, in das ein Zaunpfahl geschlagen werden soll. Man muss sie retten. Man muss auch Ehrfurcht vor dem Leben einer Ameise haben. Bazillen sind vielleicht eine Ausnahme.«
    »Reni!«, rief die Erzieherin vorne im Gehen. Ein Stück vor ihnen verzweigte sich der Weg.
    »Nächsten Sonnabendmorgen dürfen wir vielleicht nach Gersfeld auf den Markt«, sagte sie leise. Dann lief sie nach vorne und mischte sich unter die Mädchen. Als die Gruppe nach rechts bog, blickte Jockel hinterher. Reni wandte sich nicht um, stattdessen das Mädel mit den braunen Zöpfen. Er war nicht überrascht, als es eine Grimasse zog.
    Helmuth schlug den Weg zum Schlömerhof ein. Jockel stand an der Abzweigung und war mit seiner Enttäuschung beschäftigt, aber auch mit der Riesenfreude darüber, dass Reni zu ihm gekommen war. Er wäre am liebsten losgerannt und hätte sie eingeholt, um noch ein Stück mit ihr zu gehen. Er war vollkommen durcheinander und wusste gar nicht, woran er zuerst denken sollte – an Reni oder das Segelfliegen, an den Piloten, wie der zum ochsensturen Vater geht und ihm ordentlich die Meinung geigt, oder an Hamburg und Neuyork oder gar Afrika?

Ein heiliges Versprechen
    V om frühen Morgen an herrschten in Haus Ulmengrund Anspannung und summende Geschäftigkeit. Der Hausmeister schleppte seine Leiter und sein Werkzeug durch die Flure und über alle Treppen, fauchte jedes Mädel an, das ihm im Weg stand, und in der Küche schnitt

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