Blumen für den Führer
sagte Waltraut leise mit einem Blick zur Tür. Dann schaute sie sich alles an, durchaus bewegt und eingenommen. Alles schien geschmackvoll, sorgfältig ausgewählt, gepflegt, die Sessel, Stühle, Tische und Tapeten, zwei schwere Schränke mit Geschirr, ein voller Bücherschrank, in dessen Böden die ledergebundenen Bücher nach Größen geordnet waren. Reni hatte so viel Glück!
»Geht es ihm gut, dem Jungen?«, fragte Reni.
»Ich glaube, ja.«
»Man soll Menschen nicht verurteilen, bevor nicht geklärt ist, dass sie wirklich schuldig sind, nicht wahr?«
Waltraud nickte. »Jockel ist ein bisschen krank«, sagte sie.
»Ist er zu Hause?«
»Nein, dahin will er nicht.«
»Wo ist er dann?«
»Er versteckt sich noch. Herr Korff hilft ihm. Das Fieber macht uns Sorgen. Wenn es nicht besser wird, dann braucht er einen Arzt. Wir dachten schon ans Krankenhaus.«
»Der Arme. Und warum mag er nicht nach Hause gehen?«
»Sein Vater ist sehr streng.«
»Schlägt er ihn?«
Waltraut sagte Ja. Ihr war eines der Gemälde an den Wänden aufgefallen. Der Mond schien auf das nächtliche Meer und malte einen bleichen Lichtkeil auf die Wasseroberfläche. Einsamkeit und Sehnsucht, auch Angst womöglich, lagen in dieser Dunkelheit verborgen. Am Rand sah man den Umriss eines Segelschiffs – und darin waren gewiss Menschen, auch wenn man sie nicht sah.
»So etwas täte mein Vater niemals«, sagte Reni. »Mich schlagen.«
»Selbstverständlich nicht.« Waltraut war gefangen in der
Stimmung auf dem Meer. Sie war nah daran, zu sagen, dass es allerdings Seelenschläge gab, die auch tiefere Wunden hinterlassen konnten als körperliche Züchtigungen.
»Ich glaube, mein Vater wäre stolz, wenn er wüsste, wie sehr ich seine Liebe zu den Menschen teile. Er ist nämlich der Auffassung, dass man teilen sollte, wenn man viel hat. Ich habe viel, ich habe sehr viel. Und etwas von dem vielen Glück möchte ich verschenken. Am liebsten würde ich es Jockel schenken, der könnte ein bisschen Glück gebrauchen.« Reni schaute ebenfalls auf die Meereslandschaft. »Wenn Sie mir sagen, wo Jockel ist, kann ich ihn vielleicht mal besuchen. Der Vater muss es ja nicht wissen.«
Sie setzten sich an einen großen, runden Tisch. Der Blick durch die Fenster auf die Felder war herrlich und hellte Waltrauts Stimmung wieder etwas auf nach dem Gemälde. Dennoch spürte sie eine sonderbare Fremdheit zwischen ihnen. Es war der andere Raum, in dem sie sich befanden. Hier war nicht Ulmengrund, das Pensionat.
Fräulein Dohm brachte das Teetablett herein. Sie stellte alles auf den Tisch. In ihrer Gegenwart wurde die Fremdheit stärker. Erst als sie gegangen war und Reni überraschend sagte, dass sie es schön fände, wenn sie, Waltraut, ebenfalls hier wohnen würde, wich die Distanz ein Stück zurück.
Reni schenkte beiden Tee ein. Reichte die Tassen.
»Würdest du ihn denn besuchen wollen? Den Jungen, Jockel. Nein, eigentlich ist es unverantwortlich von mir, auch nur diese Frage zu stellen, Reni. Ich habe nur das Gefühl, dass dir dieser Gedanke durch den Kopf geht. Aber es geht ja nicht, weil dein Vater es nicht gutheißen würde. Zu Recht übrigens. Bevor niemand weiß, was geschehen ist, und man den Jungen nicht mehr sucht, ist es nicht gut. Außerdem
könntest du dich anstecken. Dein Vater hätte Angst um dich.«
»Darjeeling«, sagte Reni. »So heißt der Tee.«
Da war sie plötzlich wieder, die Distanz! Renis Stimme klang, als triebe sie auf einem Boot aufs Meer hinaus.
»Schmeckt er Ihnen?«
»Ganz besonders gut.« Waltraut hatte solchen Tee noch nie getrunken, sie hatte nicht gewusst, dass es ihn gibt. Vielleicht war sie es selbst, die sich entfernte, und nicht Reni.
»Das freut uns wirklich sehr, meinen Vater ebenso wie mich.«
Es ist die Sprache, dachte Waltraut. Sie will dem Vater ähnlich werden.
»Reni, würdest du mir ein bisschen was aus Berlin erzählen? Ich bin neugierig, was du dort erlebt hast.«
»Gerne, Fräulein Knesebeck.« Reni setzte sich gerade, drückte die Schultern durch und stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Der Führer war überaus freundlich zu mir. Nachdem ich ihm die Hand hatte geben dürfen, lud er mich auf eine Tasse Tee ein, die wir dann in einem kleinen Nebenraum der Tribüne tranken. Er erzählte mir, wie er sich eine bessere Welt vorstellt. Er ist ein guter Mensch mit guten Absichten. Ich habe ihm erzählt, dass ich mich für Doktor Schweitzer einsetzen möchte, und er hat mir versprochen, mich dabei zu
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