Blut & Barolo
immer seine Chance sah, ohne wirklich eine zu haben. Deshalb war Niccolò froh über die rote Fußgängerampel, Rory dagegen nicht. Der imposante Scottish Deerhound war gerade erst in Fahrt gekommen, es kostete ihn viel Kraft, seinen massigen Körper zu stoppen. Er war gut, viel besser, als Niccolò gedacht hatte, verdammt fix sogar. Plötzlich ergab dieser riesenhafte schlaksige Körper einen Sinn. Wie raumgreifenddie Schritte waren, wie lang er sich machen konnte, den Kopf gesenkt, wurde er zu einem silbergrauen Strich in der Luft. Niccolò konnte sich gut vorstellen, wie Rory Hirsche, Elche und Wildschweine durch Wälder jagte, bis die Tiere kraftlos zusammenbrachen.
Die Ampel sprang zum richtigen Moment um, denn Mario hatte sie fast erreicht. Mit der Zeit beherrschten sie das Spiel von Nähe und Distanz perfekt. Erst als sie fast bei der Ponte Umberto I. waren, den vereisten Po bereits im Blick, ließ Niccolò seinen Beinen ihren Willen und raste los. Auf diesen Moment schien Rory gewartet zu haben, denn seine Schritte wurden mächtiger, sein Haupt sank noch tiefer, dem Wind keine Angriffsfläche mehr bietend.
Niemand war schneller als er, dachte Niccolò, keiner auf der Welt! Doch dann kamen ihm Caninis Worte in den Sinn und ihr betörender Duft drang in seine Nase. Niccolò wurde langsamer. Nur ein wenig, so dass Rory es nicht merkte. Der Bewegungsapparat des Windspiels war ein Präzisionsinstrument, gegen das Schweizer Uhren wie grobes Spielzeug wirkten. Rory zog unter lautem Hecheln Zentimeter um Zentimeter näher und schaffte es erst am Flussufer, einen Kopf in Führung zu gehen. Niccolò war sehr zufrieden mit sich. Und Rory ging es nicht anders, er jagte noch ein paar Runden seinen Schwanz, weil er einfach nicht aufhören wollte zu laufen.
Mario erreichte sie kurze Zeit später – die Wölfe lauerten bereits in den Schatten auf ihn.
Ugo war überglücklich, die schwierigste Aufgabe erhalten zu haben. Er sollte die Carabinieri holen. Keiner, selbst der kluge Giacomo, schien eine Ahnung zu haben, wie das klappen könnte.
Kein Wunder, es waren ja bloß Hunde.
Doch Ugo, die Katze, wusste es gleich.
Seine Worte mochten übereinanderpurzeln wie Betrunkene, doch seine Gedanken waren glasklar. Was auf dem Weg zwischen Hirn und Zunge schiefging, blieb ihm stets ein Rätsel.
Giacomo wollte die Carabinieri, aber es mussten ja nicht gleich alle sein! Ein Ordnungshüter reichte völlig. Deshalb wartete Ugo nun in einem verschneiten Busch des schräg gegenüber der Questura verlaufenden Grünstreifens. Zu schmal, um darin zu spazieren, zu breit, um mit dem Wagen darüberzubrettern. Ugo reichte er völlig. Von hier aus merkte er sich jeden, der uniformiert in die Questura ging, damit er ihn erkannte, wenn er in Zivil wieder vor die schwere Metalltür trat.
Katzen konnten gut beobachten. Eigentlich machten sie die meiste Zeit nichts anderes. Selbst mit geschlossenen Augen konnten sie etwas im Blick behalten, um im richtigen Moment hellwach auf die Beute zu springen. Ugo schlief ein, denn er war sich sicher, dass ihn seine Sinne wecken würden, wenn der passende Mensch auftauchte. Es war ihm völlig egal, ob dieser dünn wie ein Grissino oder dick wie eine Fleischtomate war, Männlein oder Weiblein machte keinen Unterschied.
Es wurde eine schlanke Frau, mit dunklen Haaren bis zum Nacken, einer modischen rechteckigen Brille und einem Hosenanzug. Sie hielt ihren Kopf nicht gesenkt, drückte sich keine Tränen weg wie lästiges Ungeziefer und schlurfte auch nicht über den Bürgersteig, doch Ugo wusste, dass dieser Frau Liebe fehlte. Katzen spürten so etwas einfach. Seit jeher. Einsame Herzen zogen sie magisch an. Genau wie einsame Mäuse. Aber nur Letztere fraßen sie auf.
Diese Frau war bestimmt auf dem Weg zurück in eine einsame, aufwendig eingerichtete Wohnung, vielleicht mit kleinen Clownfiguren auf den Fenstersimsen. Ihre braunen Augen strahlten diese Fröhlichkeit aus, die nur ein dicker,schützender Vorhang für die Einsamkeit dahinter war. Sie hatte keine Verabredung für den Abend, nichts geplant als das Gießen der Topfpflanzen und das Einschalten des Fernsehers. Sie hatte Zeit. Dieser Frau strich Ugo nun um die Beine, selbstverständlich schnurrend, denn das gehörte zum Service, das Köpfchen gereckt, das Schwänzchen ebenfalls. Er lief die teuflische Acht um ihre Beine. Kein Mensch konnte dieser widerstehen.
»Was bist du denn für ein Süßer! Ganz verschmust, was? Kümmert sich denn keiner
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