Blut & Barolo
sich früh auf den Weg zur Questura. Er wollte die Welt möglichst schnell wieder zurechtrücken. Maria Grazia hatte ihm zuvor von der Stadt erzählt, und welche Orientierungspunkte er sich merkenmusste, um sich in diesem Irrgarten nicht zu verlaufen. Doch Turin wirkte schon nicht mehr so groß wie noch gestern. Es schien geschrumpft, auf eine erträgliche Größe. Giacomo hielt sich stets an die wenig belebten Wege. Ohne die vielen unachtsamen Menschen hätte es ein schöner Ort sein können. Leider liebten Menschen es, schöne Orte zu bevölkern und diesen durch ihre schiere Anwesenheit das Schöne zu rauben.
Seine Nase bewegte sich unablässig. Neben den Speisen roch er Tiere, nicht nur Hunde, sondern auch Katzen, in großer Zahl. Sie hatten ihre Spuren hinterlassen wie Tauben ihren Kot. Doch er konnte sie nicht sehen, sie mussten in den Hinterhöfen leben oder auf den unzähligen Balkonen, die jetzt im Winter so karg an den Häusern hingen, verlassenen Vogelnestern gleich.
Plötzlich drang ein Aroma über die Straße, wand sich wie eine Schlange um Beine und Autos, um Laternen und Straßenschilder, überwand mit großer Zielstrebigkeit köstlichste Essensdüfte, sogar jene aus einer Bottega di cioccolateria, um Giacomo schließlich wie ein leichter elektrischer Schlag in die Nasenlöcher zu fahren. Der rannte sofort los, preschte den Bürgersteig entlang, rempelte die Menschen an, lief sogar ein Stück auf der Straße. Denn der Geruch gehörte Canini. Dort vor ihm ging sie an der Leine, die von einer dunklen Menschenfrau gehalten wurde. Giacomo war noch nie so glücklich gewesen, die Spanielhündin zu sehen. Ihr Duft erschien ihm mit einem Mal süß und auf wunderbare Weise vertraut.
Giacomo hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf. »Wo hast du Niccolò gelassen? Jetzt können wir alle zusammen Isabella suchen!«
» Du !«, Canini knurrte. »Alles nur wegen dir! Warum musstest du nur diesen Lumpen anschleppen?«
»Er roch nach Trüffel!«
»Apportierst du auch alte Socken, wenn sie nach Trüffel riechen?«
»Socken riechen aber nie nach ... ach, ist auch egal. Wo ist denn jetzt Niccolò?«
Canini zögerte, kratzte mit dem Vorderlauf auf dem Bürgersteig, dabei war da doch nichts. Dann blickte sie ihm fest in die Augen.
»Habe ich seit der Nacht im Schloss nicht mehr gesehen. Er ist fortgelaufen, dir hinterher.«
»Aber bei Stupinigi ist er nirgends gesichtet worden!« »Vielleicht hat ihn jemand eingefangen.«
»Oder er ist ... «, Giacomo traute sich kaum, es auszusprechen, »im Schnee erfroren.«
Die Frau wollte ihn ergreifen. Ihre Hände, die spitzen Fingernägel voran, rasten auf ihn zu. Er ließ sich nicht begrapschen, und fangen ließ er sich erst recht nicht! Na ja, außer von dem Fallensteller. Aber das war Zufall gewesen, wegen der dicken Schneeschicht. Er konnte Canini nicht einmal mehr fragen, wo er sie finden würde, sonst hätte die Frau ihn erwischt. Doch sie folgte ihm nicht. Giacomo suchte trotzdem hinter einem Zeitungsstand Schutz. Hier wollte er die düsteren Gedanken verscheuchen. Niccolò war nicht tot. Sicher nicht. Das hätte er gespürt, oder? Ein Hund, der die Schlacht um Rimella überlebt hatte, starb doch nicht einfach so in einer kalten Winternacht!
Selbst wenn er so wenig Fell hatte, so zierlich war, so unerfahren.
Er musste zu Isabella. Sie würde Niccolò aufspüren. Die beiden hatten schließlich eine besondere, eine perfekte Verbindung. Da fand man sich! Sein Trifolao hatte ihn auch immer ausfindig gemacht. Selbst wenn Giacomo zu sehr im Barolo geschwelgt und den wunderbar weichen Waldboden für ein Nickerchen genutzt hatte.
Die Questura konnte nicht mehr weit sein. Giacomo liefnur ungern auf dem hartgefrorenen Asphalt. Es strengte die Muskeln an und belastete die Knochen. Die Luft brannte in der Lunge. Es war eine äußerst ungemütliche Art der Fortbewegung.
Doch jetzt rannte er trotzdem, denn etwas stimmte nicht. Überhaupt nicht. Überall sah er sich selbst, so als wäre die Stadt zu einem einzigen großen Spiegel geworden: Er hing an Mauern, klebte an Ampelmasten, bedeckte Pappschilder. Überall blickte er sich an. Träge schaute er aus. Giacomo hatte sich selten selbst gesehen, eigentlich nur in Pfützen und Glasscheiben. Doch er erkannte sich wieder. Über seinem Bild standen Zeichen. Groß und dick.
Was immer sie zu bedeuten hatten, er sah sie sich zu lange an. Denn plötzlich zeigte eine Frau, der ein totes Frettchen um den Hals hing, mit dem beringten
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