Blut & Barolo
einer leeren Gasse aus. Ohne Worte verschwand Striezel wieder im Dunkel. Er böllerte noch einmal fröhlich zum Abschied und rief beim harten Aufprall ins Abwasser: »Verdammich, ja!« Niccolò hörte Getrappel, und dann schließlich nichts mehr.
Er spürte Isabella, noch bevor die frische Luft seine Lunge füllte.
Dies war der richtige Ort! Alle Fenster waren vergittert, Türen nirgends zu sehen. Diese lagen Striezel zufolge nach vorne hinaus. Würden sie ihn hineinlassen? Durfte er zu seinem Menschen?
Niccolò rannte los. Doch schon nach wenigen Metern hielt er wieder an. Es war nicht seine Nase, die ihn zum Stoppen brachte. Es war sein Herz. Zielsicher führte es ihn zur Gefängnismauer, sicher so hoch wie vier Menschen, bedeckt mit Stacheldraht. Zu einem mit Unkraut bewachsenen Abschnitt zog es ihn, obwohl er doch so gern zum Eingang gerast wäre.
Hinter dem Strauch war die Mauer weggebröckelt. Gelöst vom Urin der Jahre. Aber auch von Krallen, deren Spuren an den Seiten belegten, dass es Hunde gewesen sein mussten, die diesen kleinen Schacht freigelegt hatten. Viel Geduld und Kraft musste dafür nötig gewesen sein. Einen guten Meter führte der Weg hinein und endete dann an Gitterstäben. Dahinter lag ein Hof, der in einen riesigen, oben offenen Käfig verwandelt worden war. Niccolò sah lange Zeit niemanden, vielleicht waren es sogar Stunden, die er wartete. Trotzdem wollte er nicht wieder hinauskriechen, um keinen Preis. Dann endlich kamen die Menschen. Sie liefen nur im Kreis herum, ein schmutzig grauer Trampelpfad hatte sich dadurch gebildet. Einige schwangen dabei die Arme wie Windmühlen, eine Frau ging seitwärts, doch die meisten ließen nur den Kopf hängen. Eine Gestalt schlurfte gar, soals schliefe sie. Immer wieder kam sie vom Weg ab, stieß ihre Schuhe gegen den harten, eisigen Rand.
Erst als sie näherkam, erkannte Niccolò seine Isabella. Sie sah so ausgezehrt aus, so blass, als habe man sämtliches Blut aus ihr gepumpt.
Er bellte leise. Keine Reaktion, sie war immer noch zu weit entfernt, er würde warten müssen. Der nächste Beller wollte hinaus, er war lauter, drängender. Doch Niccolò hielt ihn in der Kehle fest, schaffte es dadurch kaum noch zu atmen. Erst als ihre Runde Isabella genau zu ihm führte, ließ er ihn gedämpft hinaus.
Drei Gesichter wandten sich in seine Richtung.
Isabellas war darunter. Ihr Blick suchend, doch ihre Mundwinkel formten bereits ein Lächeln, ihre Wangen zitterten vor ungläubiger Freude. »Niccolò?«, fragte sie leise. »Bist du es wirklich?«
Die Welt des kleinen Windspiels veränderte sich schlagartig, das Weiß des Schnees erschien ihm nicht mehr kühl, sondern leuchtend. Niccolò spürte die Wärme in Isabellas Körper, hörte ihre Gedanken. »Er hat mich wirklich gefunden. Mein Niccolò weiß, dass ich unschuldig bin. Wo steckt er nur? Ich habe ihn doch gehört, so nah, als stände er neben mir!«
Sie kam Richtung Mauer. Gleich wäre sie bei ihm, würde die Fingerspitzen zwischen den Gitterstäben hindurchschieben und sein Fell kraulen.
Doch dann zog Niccolò etwas am Hinterlauf, zerrte ihn fort von seinem Menschen, den er so lange gesucht hatte.
»Niccolò!«, hörte er sie rufen, und er wehrte sich mit aller Kraft gegen diese Grausamkeit, trat aus, versuchte sich mit den Pfoten festzuhalten. Doch es beeindruckte das Monster überhaupt nicht, das ihn mit roher Gewalt fortriss von seiner Isabella.
Eng kam ihm der Schacht nun vor, dunkel und erdrückend.Dann landete er mit voller Wucht auf dem Beton der Gasse.
Es war ein Hund, der ihn herausgezogen hatte und nun breitbeinig über ihm stand, die Zähne fletschend.
Und Niccolò kannte ihn.
Oder dachte es zumindest.
Es war Giacomo.
II
TURINER BLUT
Kapitel 5
PORTA PALATINA
D ie kalte Luft ließ den Himmel über Turin so klar werden, dass die Konturen der Alpengipfel wie Klingen ins wolkenlose Blau schnitten. Niccolò blickte zu den schneebedeckten Riesen, keinen Muskel bewegend. Die eisigen Massen beruhigten ihn ein wenig, schienen seine Wunden zu kühlen.
Der alte Trüffelhund hatte seinen Fang kraftvoll und dennoch vorsichtig um Niccolòs Hinterlauf geschlossen, als er ihn von der Mauer wegzerrte. Dann hatte er ihn gebissen, mehrmals, bis Blut floss. Niccolò war starr vor Schreck gewesen. Hatte sich nicht gewehrt. Was war er bloß für ein unglaublicher Versager! Giacomos Bisse hatten einzig seinem Ohr gegolten – um dessen Taubheit der alte Freund wusste. Die
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