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Blut & Barolo

Titel: Blut & Barolo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Krallenschläge waren hart gewesen und hatten ihn doch sanft getroffen. Giacomos Pfoten waren geschult durch das vorsichtige Ausheben der Trüffel. Sie hatten Niccolò behandelt wie eine solche. Doch kein freundliches Wort, kein Zeichen des Erkennens. Warum nur hatte er ihn angegriffen? Wusste Giacomo vielleicht nicht mehr, wer er war? Manche Hunde stießen sich hart den Kopf und vergaßen alles, veränderten gar ihren Charakter.
    Doch einmal, zwischen zwei Bissen, hatte er ihm über die Stirn geleckt. Oder hatte Niccolò sich die zärtliche Berührung in all dem Chaos nur eingebildet? Sie sich gewünscht? Denn wenn er Giacomo nicht mehr an seiner Seite hatte, wen dann? Erst jetzt merkte Niccolò, welcher Anker der alteHund für ihn war – und wie schwankend die Welt ohne diesen.
    Eine Passantin warf ihm ein Stück ihres Tramezzino zu und strich dem kleinen Windspiel über den Kopf. Wie elend und hilfsbedürftig mochte er aussehen? Wie tief war eigentlich die Wunde am Ohr? Er musste sich in einem Spiegel betrachten. Auf der prachtvollen Via Roma gab es endlose Schaufenster, dort schleppte Niccolò sich nun hin, immer nah an den Hauswänden entlang. Nur nicht auffallen.
    Endlich kam er zu einem prachtvollen Damenausstatter. Hinter den Glasscheiben standen Schaufensterpuppen. Röcke kurz, Pelze dick, Gesichter unbeweglich. Niccolò achtete nicht auf sie, seine Aufmerksamkeit galt dem Widerschein seines Ohres. Bildete er sich das nur ein, oder formten die kleine Wunden ein Muster? Es waren nicht die üblichen Vertiefungen der Reißzähne, nicht die Rundung des Fangs.
    Plötzlich tauchte neben ihm ein schlaksiger Mann auf, in einen schicken glänzenden Anzug gehüllt, den Krawattenknoten fest unter den Adamsapfel gezogen.
    »Verschwinde, Töle!« Eine La Stampa traf Niccolò an der Flanke. »Mach dein Geschäft woanders. Du störst meine Kundschaft.«
    Gedankenverloren trottete Niccolò vor das Schaufenster des nächsten Geschäfts. An irgendetwas erinnerte ihn diese Wunde. Er drehte den Kopf mal in die eine, mal in die andere Richtung. Doch erst als er ihn schräg legte, fiel es ihm ein. Was er dort im spiegelnden Glas der Edelboutique sah, war ein Kreuz, das Symbol der Menschen für ihre Kirchen. Und daneben ein langer senkrechter Strich.
    Oder war das bloß Zufall?
    Zwei Hände ergriffen ihn mit langen Fingern und trugen ihn zur Piazza San Carlo. »Geh bei der Konkurrenz die Leute nerven.«
    Abgesetzt wurde er vor einem Schaufenster, das Schuheenthielt. Unzählige Exemplare, auf Tellern angerichtet wie Speisen. Wieder drehte Niccolò den Kopf. Kein Zweifel, ein Kreuz. Warum sollte Giacomo dieses Zeichen in sein Ohr beißen? War es nicht auch ein Symbol des Todes? War Giacomo etwa sterbenskrank? Er war sich sicher, dass sein Gefährte ihm damit etwas mitteilen wollte.
    »Ksch!«, sagte plötzlich eine tiefe Frauenstimme. Doch Niccolò rührte sich nicht vom Fleck. »Fort mit dir! Los, weg!«
    Das Zeichen konnte natürlich auch zwei Salamis über Kreuz darstellen – und eine hängend daneben. Vielleicht der Hinweis auf eine empfehlenswerte Metzgerei?
    Eine Decke wurde über ihn geworfen. Das kleine Windspiel wehrte sich nicht, denn es dachte gerade angestrengt nach. Als es kurze Zeit später wieder ausgewickelt wurde, fand es sich abermals vor dem Schaufenster mit der Pelzmode. Praktischerweise spiegelte es sich direkt.
    Ein wenig erinnerte ihn die Bissstelle auch an ein Verkehrsschild der Menschen. War Giacomo vielleicht gegen eines gelaufen und konnte seitdem nicht mehr sprechen?
    Aber wenn er nicht mehr sprechen konnte, was machten dann die anderen Hunde bei Giacomo? Sie sahen ihm ähnlich, aber ganz von seiner Art waren sie nicht. Sogar eine Hündin war dabei, sie hatte ängstlich zu Giacomo gesehen, als dieser ihn angriff. Dann hatte der Größte dieser merkwürdigen Meute zu ihm gesprochen, während die anderen in Angriffsposition verharrten. Wenn er ihnen noch einmal in die Quere käme, würden sie ihn töten, hatte dieser dunkle Lagotto gesagt. Danach verschwanden sie so schnell um die Ecke, dass Niccolò nicht einmal wusste, ob sein alter Gefährte ihm noch einen letzten Blick zuwarf.
    »Da bist du ja schon wieder! Willst du vielleicht zu Pelz verarbeitet werden? Ist aber wenig dran an dir. Reicht höchstens für ... ein Paar Schuhe!«
    Wieder ergriffen ihn die Hände, doch diesmal pfiff der Mann vergnügt, bis er ihn vor dem Schuhgeschäft absetzte. Er tätschelte Niccolò sogar den Kopf. »Los, mach schon

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