Blut & Barolo
Spanielhündin sah das Meer heute zum ersten Mal. Solche Mengen Wasser waren ihr unheimlich, kannte sie zuvor doch nur den ruhig dahinfließenden Po und den Lago Maggiore, vom Wagen aus, sie hatte ihn für eine optische Täuschung gehalten. Doch der See hatte zumindest Grenzen gehabt, das Meer kannte nur ein Ufer.
Aber die Mittelmeerküste bei Savona war durch den eisigen Regen schon nicht mehr zu sehen.
Mario stellte das Paddeln ein und zog die beiden Ruder klackend über die Dollen ins Boot. Dann kniete er sich zu Canini, schloss sie in die Arme. Die Spanielhündin knurrte. Denn es gab keinen Fluchtweg. Wie jeder Hund hasste sie es, in die Enge getrieben zu werden. Und Marios Körper, obwohl er sie beschützen wollte, machte es nur noch schlimmer.
»Ganz ruhig, meine Kleine. Wir stehen das durch. Ich bin bei dir.«
Die Wellen peitschten immer heftiger gegen das Boot, auf der ganzen Länge, warfen es hin und her. Plötzlich drehten sie es quer zur Windrichtung. Jetzt bot es eine viel größere Angriffsfläche, das Wasser nutzte seine Chance, griff sich die hölzerne Schale und drehte sie um. Einfach so. Mit einem Mal war nur noch düsteres Wasser um Canini, so kalt, als hätte es niemals ein Sonnenstrahl erwärmt, es raubte ihr alle Luft aus der Lunge. In ihren empfindlichen Ohren lärmte das Meer. Die Hündin strampelte, doch in welche Richtung? Die Schwärze harrte überall.
Canini musste daran denken, wie Isabella sie aus ihrem Wurf ausgewählt hatte – nachdem sie ihr auf die Schuhe gepieselt hatte. Wie sie ihr als kleiner Welpe mit stoppelkurzem Fell und wackelndem Hintern entgegengerannt war, als der Tag des Abschieds von ihrer Mutter kam, und wie leicht es ihr gefallen war, weil Isabella so gut roch, immer wieder hatte sie ihr durchs Gesicht geleckt. Die Erinnerungen erhellten wie Blitze ihre schwindende Welt. Auch die an Niccolò. Wie er ihr sein Dorf Rimella gezeigt hatte, atemlos rennend und bellend, damit sie ja nichts übersah. An dem alten Maronenbaum auf der nördlichen Anhöhe hatten sie sich geliebt, es war wild und laut gewesen. Sie hatte ihn danach kläffend ins Dorf zurückgejagt. Herrlich.
So herrlich.
Immer schneller schlugen die Blitze der Erinnerung ein,schienen Dunkelheit und Kälte zu vertreiben. Dann spürte Canini ihren Körper nicht mehr. Sie lag nun auf ihrer Decke in dem alten Bauernhaus am Südrand Rimellas, schlummerte in der Sonne am Brunnen auf der kleinen Piazza, wartete gemeinsam mit Niccolò vor der Hintertür der kleinen Trattoria auf Wurstzipfel, rannte über die wilde Wiese nahe der Straße nach Lagiorno. Alles auf einmal. Canini war überall. Und sie war geborgen.
Der Abendhimmel über Turin war klar, nichts deutete auf ein nahendes Unwetter hin. Das Borgo lag verlassen vor Giacomo – soweit seine Augen dies sehen und seine Nase es riechen konnte. Je weniger des Dorfes man erkennen konnte, desto mehr sah es nach etwas aus. Pure Magie.
Doch Giacomo misstraute der Stille. So als entstünde sie nicht, weil niemand da war, sondern weil alle sich leise verhielten. Deshalb beobachtete er unentwegt das Versteck des Sindone. Er hatte sich bewusst nicht danebengelegt, denn dies wäre wie ein Hinweisschild gewesen.
»Was meinst du, wie es dem Fuchs jetzt geht?«, fragte Niccolò leise. »Die Bulldogge war ... «
»Wütend, aber geschwächt. Mehr Wille als Kraft.« »Ob sie uns gefolgt ist?«
»Dann säßen wir nicht so friedlich hier, oder?«
»Meinst du, der Fuchs ist tot?« Niccolò stand nun ganz nah bei ihm.
»Du bist zu alt für Lügen, Kleiner. Ich weiß es nicht. Er war sehr flink, aber ein einziger Biss reicht, um ihn umzubringen. Wir werden es nie erfahren. Vielleicht ist das auch besser so.«
»Ich würde es gerne wissen.«
»Still jetzt, da ist der Conte!«
Der kleine Pekinese mit der roten Schleife erschien, sich unsicher umblickend, und lief dann vergnügt zu dem Kinderspielplatz,der an den Park grenzte. Auf einem Wipptier – etwas zwischen Ente und Flugsaurier – saß die alte Frau, welche Giacomo bereits einige Male gesehen hatte. Um sie hatten alle Hunde stets einen Bogen gemacht. Ihre Kleidung war alt, die Farben verwaschen, fast sah sie aus wie eine der Berberinnen, die an der großen Ampelanlage des Corso Vittorio Emanuele II. an die Scheiben der Autos klopften und um ein paar Münzen baten. Auf ihrem Kopf war ein riesenhafter Hut, in dem Obst zu stecken schien. Giacomo hatte zuerst vermutet, sie säße dort, um die hungrigen, beständig
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