Blut der Sternengötter
langer Zeit ist dies eine Theorie in unserem Volk gewesen, aber erst im letzten Jahr konnte sie schließlich bewiesen werden. Ich werde versuchen, es dir zu erklären, Kincar. Gibt es nicht viele Momente im Leben eines Mannes, wo er eine Entscheidung fällen muß, die von großer Bedeutung für die Gestaltung seiner Zukunft ist? Du, zum Beispiel, hattest die Wahl, dich uns anzuschließen oder auf Styr zu bleiben und um dein Recht zu kämpfen. Das heißt, in dem Augenblick, bevor du aus der Burg fortrittest, hattest du zwei Straßen vor dir – zwei voneinander getrennte Zukunftsmöglichkeiten – und wahrscheinlich sehr unterschiedliche.«
Kincar murmelte Zustimmung.
»Beides ist wirklich, wie wir bewiesen haben. Jetzt gibt es zwei verschiedene Gorths für dich – eines, in dem du hier bei uns bist, und eines, in dem du auf Styr geblieben bist«
»Aber wie könnte das sein?« protestierte Kincar rasch. »Ich stehe hier! Ich kämpfe nicht gegen Jord in Styr – noch liege ich tot im Staub, gefallen durch sein Schwert!«
»Dieses ›du‹ steht hier – das andere ›du‹ ist in Styr.«
Kincar schüttelte verwirrt den Kopf. Mehrere »dus« oder »ichs«, die alle verschiedene Leben führten? Wie konnte Kincar s’Rud so gespalten sein?
Lady Asgar kam ihm zu Hilfe. »Der Kincar, der sich entschloß, in Styr zu bleiben«, sagte sie sanft, »ist nicht der gleiche Kincar, der mit uns durch die Tore kam, denn eben durch diesen Entschluß ist er zu einem anderen Menschen in einer anderen Welt geworden. Er ist nicht du, noch hast du jetzt noch etwas mit ihm zu schaffen – denn jene Welt ist für dich nicht mehr.«
Lord Dillan betrachtete die von ihm gezeichneten Linien. »Aber so wie bei den Menschen ist es auch mit ganzen Nationen und Welten. Zeitweise gelangen sie an Trennungspunkte, und von diesen Punkten an geht ihre Zukunft zweierlei Wege. Auf diese Weise, Kincar, gibt es viele Gorths, ein jedes durch irgendeinen historischen Entschluß entstanden und geformt, und ein jedes liegt neben dem anderen wie diese Linien, aber jedes einzelne folgt seinem eigenen Weg…«
Kincar starrte auf die Spuren im Staub. Viele Gorths, eines neben dem anderen, aber ein jedes aus einer Wegkreuzung in der Vergangenheit entspringend? Seine Phantasie entzündete sich an diesem Gedanken, wenn er es auch immer noch nicht ganz glauben konnte.
»Dann«, sagte er langsam und bemüht, die richtigen Worte zu finden, »dann gibt es also auch ein Gorth, in das die Sternenlords niemals kamen und in dem die wilden Männer des Waldes immer noch leben wie die Tiere? Und vielleicht ein Gorth, in dem die Sternenlords sich entschlossen, nicht fortzugehen?«
Lord Dillan lächelte. »So ist es. Und es gibt auch Gorths – oder zumindest ein Gorth, hoffen wir –, in dem sich eine menschliche Rasse gar nicht erst entwickelte. Dieses Gorth suchten wir, als wir die Tore durchschritten.«
»Aber man hat uns keine Zeit gelassen, es zu finden«, murmelte Lady Asgar. »Diese Festung beweist es.«
»Wären wir nicht bis zuletzt noch gejagt worden und hätten wir nur einen Tag Zeit gehabt – vielleicht hätte sogar nur eine Stunde genügt –, dann wäre es uns wahrscheinlich gelungen, es zu finden. Dennoch, dank unseres mitgebrachten Wissens können wir eines Tages die Tore wieder öffnen – wir brauchen nur genügend Zeit dazu.«
Aber sogar Kincar spürte, daß Lord Dillan sich dessen nicht ganz sicher war. »Wo sind wir jetzt?« fragte er. »Wer hat diese Festung gebaut? Die Bauart ist mir ganz unbekannt. Ich hielt sie für eine verborgene Burg der Sternenlords.«
»Nein, sie ist nicht von uns. Aber sie wird uns fürs erste guten Schutz bieten. Hätten wir doch nur mehr Zeit gehabt … «
»Zumindest hatte die Zerstörung der Tore ein Gutes.« Lady Asgar setzte Vorken behutsam auf den Boden und stand auf. »Wenn es auch für uns nicht von Nutzen war, so doch wenigstens für Gorth – da Herk in jenem Feuer umkam.« Lord Dillan nickte. »Ja, Herk ist für immer unschädlich gemacht. Und jene, die ihm folgten, werden sich rasch zerstreuen, auseinandergetrieben von ihren eigenen Eifersüchteleien und Begierden. Er war der letzte der Rebellen, und jetzt ist Gorth frei, sein eigenes Schicksal zu gestalten, während wir das unsere woanders suchen können.« Auch er stand auf und lächelte Kincar mit echter Wärme an. »Wir sind nur eine Handvoll, aber wir werden dieses Abenteuer schon durchstehen und es zu einem guten Ende führen. Laß uns nur das
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