Blut der Wölfin
Tür auch nicht. Wir halten uns für eine aufgeklärte Gesellschaft, aber woran klammern wir uns, wenn unsere grundlegenden Ängste geweckt werden? Magie und Aberglaube.«
Sie zog die Folie von einem Teller mit Keksen und schob ihn mir hin.
»Iss auf«, sagte sie mit einem Zwinkern. »Solange du noch eine Entschuldigung dafür hast.«
Ich nahm zwei.
Sie fuhr fort: »Wenn Robert Vasic euch hierhergeschickt hat, dann weiß ich, dass es nicht um Amulette gegen verseuchtes Wasser geht. Während sich die Menschen um paranormale Gegenmittel reißen, mieten die Paranormalen Ferienhäuser und legen Mineralwasservorräte an. Was kann ich also für euch tun?«
Ich begann damit, dass ich sie nach paranormalen Geschichten über Jack the Ripper fragte.
»Ah, unsere Folklore«, sagte sie, während ihre Augen aufleuchteten. »Mein Spezialgebiet. Ich liebe Geschichten – sie erzählen uns so viel über uns und unsere Welt, und gerade
unsere
Welt hat ein paar der faszinierendsten Geschichten, die es gibt. Allerdings fürchte ich, in diesem Fall werdet ihr enttäuscht sein. Was die Einbildungskraft von Menschen beflügelt, beflügelt nicht notwendigerweise auch unsere.«
»Weil wir viel Schlimmeres gesehen haben als Jack the Ripper?«
»Genau das. Wenn ihr nach von Menschen geschaffenen Überlieferungen und Geschichten sucht, denen zufolge Jack the Ripper ein Paranormaler war, dann werdet ihr geradezu von Anekdoten überflutet werden. Es gibt da eine wunderbare Geschichte von Robert Bloch …« Sie lachte. »Aber deshalb seid ihr nicht hier, oder? Bleiben wir bei der Folklore. Also …«
»Nana?«
Wir drehten uns um und sahen ein Mädchen mit einem hellbraunen Pferdeschwanz durch den Perlenvorhang spähen, der in die hinteren Räume führte. Sie war etwa zwölf.
»Erin«, sagte Anita. »Meine Enkelin.« Sie lächelte dem Mädchen zu. »Fertig mit den Hausaufgaben, und jetzt findest du, dass das hier interessanter klingt? Komm, nimm dir einen Keks.«
Das Mädchen nahm sich einen, und dann teilte Anita ihr im Flüsterton mit, dass sie aus dem Nebenraum zuhören durfte, wenn sie uns nicht unterbrach.
Von den vier Geschichten, die Anita uns erzählte, wurde in zweien die Annahme vertreten, Jack the Ripper sei ein Magier gewesen und die ermordeten Frauen Opfer seiner Rituale. Die offensichtlichste Interpretation mit anderen Worten, aber, wie Anita sagte, sehr unwahrscheinlich. Brutalität war bei einem Opfer nicht notwendig, und selbst wenn ein Magier es so mochte, würde er den Mord und das Ritual kaum an einem öffentlichen Ort durchführen.
Die dritte Geschichte besagte, dass die Morde von einem Werwolf im Zuge eines Streits um Territorium verübt worden seien. Der Werwolf habe versucht, einen anderen aus London zu vertreiben, und gehofft, die Morde würden dies bewirken. Keine üble Theorie – solange man sie sich nicht zu genau ansah. Wenn man ein Werwolf ist und versucht, einem anderen Werwolf mit der Enttarnung zu drohen, warum sollte man seine Morde dann nicht eindeutig werwolfartig gestalten? Warum sich nicht wandeln und die Sache wirklich stilgemäß erledigen? Wer diese Geschichte auch immer in Umlauf gebracht hatte, ihm war wohl wenig über Werwölfe bekannt, außer ihrem Ruf, die Schläger der paranormalen Welt zu sein – gewalttätig, aber nicht allzu intelligent. Typisch.
Die letzte Geschichte war offenbar auch die populärste; es gab viele verschiedene Versionen, die teilweise schon aus der Zeit des Rippers selbst stammten. Dieser Geschichte zufolge war Jack ein Halbdämon gewesen, der Kontakt zu seinem Vater aufgenommen hatte. Was so einfach nicht ist, wenn Dad in einer Höllendimension lebt, aber ich nehme an, ein entschlossener Sohn kann Mittel und Wege finden.
Die Legende besagte, dass der Halbdämon einen Pakt mit seinem Vater geschlossen habe, ihm im Austausch gegen ein Geschenk Opfer zu bringen. Worin die Gabe bestanden hatte, darüber gingen die Meinungen auseinander – Unverwundbarkeit, Unsterblichkeit, unermesslicher Reichtum, es kam so ziemlich jeder der einschlägig bekannten Wünsche vor. Der dämonische Aspekt, so die Geschichte, erkläre die Brutalität der Morde und warum Jack mit den Medien korrespondiert hatte, statt seine Verbrechen im Geheimen zu begehen. Dämonen nähren sich vom Chaos. Bei einem Dämonenopfer geht es nicht so sehr um das Blutvergießen, sondern um das durch den Tod verursachte Chaos. Das wäre dementsprechend das Opfer gewesen, das Jack seinem Vater gebracht
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