Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
mindestens sechzig Prozent. Stress habe die Beschwerden noch verschlimmert, denn Kathleen habe wegen der Verlegung in die Einzelhaft eindeutig unter Druck gestanden. Es würde mich nicht wundern, wenn wir nach lebenslanger ungesunder Ernährung sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch feststellen werden, dass sie an einer Herzkrankheit litt.
»Was ist mit dem Müll?«, erkundige ich mich bei Chang. »An einigen Türen habe ich weiße Müllbeutel bemerkt, aber hier ist keiner. Weder ein leerer noch ein voller.«
»Gute Frage.« Wir wechseln einen wissenden Blick. Falls es in der Zelle einen Müllbeutel oder überhaupt Abfall gegeben hat, wurde er vor seiner Ankunft beseitigt.
»Stört es Sie, wenn ich mich umschaue?«, meine ich zu ihm. »Ich werde auch nichts ohne Ihre Erlaubnis anfassen.«
»Bis auf die Dinge, die ich für Sie sicherstellen soll, bin ich hier fertig. Tun Sie sich also keinen Zwang an.« Mit behandschuhten Händen öffnet er die Plastikverpackung eines sterilen Applikators und schiebt sich an mir vorbei zum Waschbecken.
»Ich gebe Ihnen trotzdem jedes Mal vorher Bescheid«, antworte ich, denn vom Gesetz her hat er hier das Sagen. Colin Dengate ist nur für die Leiche und alle damit zusammenhän genden biologischen und Faserspuren zuständig. Und ich bin nichts weiter als ein geladener Gast, eine Expertin von auswärts, die eine Genehmigung braucht. Wenn ein Fall nicht unter den Zuständigkeitsbereich des Armed Forces Medical Examiner, in anderen Worten des Verteidigungsministeriums, fällt, habe ich jenseits der Grenzen von Massachusetts nichts zu melden und werde deshalb bei der kleinsten Kleinigkeit um Erlaubnis bitten.
In die Wand gegenüber der Toilette sind zwei graue Metallregale eingelassen, auf denen Bücher und Notizblöcke liegen. Außerdem sind da noch verschiedene Behälter aus durchsichtigem Plastik, die das Verstecken verbotener Gegenstände verhindern sollen. Als ich jeden davon öffne, erkenne ich den Geruch von Kokosbutter, Noxzema gegen Hautunreinheiten, Pflegeshampoo, Mundwasser und Zahnpasta mit Pfefferminzgeschmack. In einer Seifenschale liegt ein dickes weißes Stück Seife, Marke Ivory. In einem Plastikröhrchen steht eine Zahnbürste, die Substanz in einer Plastikflasche scheint Haargel zu sein. Außerdem sehe ich einen kleinen Plastikkamm, eine Haarbürste ohne Griff und große Lockenwickler aus Schaumstoff, vielleicht aus einer Zeit, als Kathleen Lawler noch längere Haare hatte.
Die Bücher reichen von Romanen bis hin zu Gedichten und Ratgebern. Daneben befinden sich durchsichtige Plastikkörbe voller Briefe, Notizblöcke und Schreibpapier. Hinweise auf eine Zellendurchsuchung kann ich nicht entdecken. Nichts weckt den Verdacht, dass das Wachpersonal Kathleens Sachen durchwühlt hat. Allerdings erwarte ich auch keine offensichtlichen Anzeichen dafür. Falls ihre persönliche Habe vor Changs Ankunft kontrolliert wurde, dann sicher nicht, weil man darunter Marihuana, ein selbstgebasteltes Messer oder andere im Gefängnis verbotene Dinge vermutet hat. Es steckten andere Absichten dahinter, die ich im Moment nicht zu fassen kriege. Was könnte ein Gefängnismitarbeiter hier gewollt haben? Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls entbehrt die Beseitigung ihres Müllbeutels vor Eintreffen des GBI jeder gesetzlichen Grundlage. Mein mulmiges Gefühl nimmt zu.
»Wenn Sie einverstanden sind, würde ich gern da hineinschauen. « Ich deute auf den Inhalt der Körbe. Chang soll genau wissen, was ich vorhabe.
»Klar.« Er nimmt Abstriche vom Edelstahlwaschbecken. »Ja, es riecht irgendwie komisch, Sie haben recht. Und das Zeug ist grau. Milchig grau.« Er verstaut die Applikatoren in einem Plastikröhrchen und beschriftet den blauen Schraubdeckel mit einem Markierstift.
Die Notizblöcke sind alle liniert. Deckblatt, Seiten und die Rückseite aus Pappkarton werden von einer Klebebindung zusammengehalten und stammen vermutlich aus dem Gefängnisladen, wo Spiralblöcke nicht im Angebot sind, weil man den Draht als Waffe verwenden könnte. Auf den Seiten stehen Gedichte und Prosatexte, unterbrochen von Kritzeleien und Zeichnungen. Die meisten Texte sind datierte Tagebucheinträge. Offenbar hat Kathleen gründlich und begeistert Tagebuch geführt. Sofort fällt mir auf, dass Einträge aus jüngerer Zeit fehlen. Beim Durchblättern der Notizblöcke stoße ich auf ausführliche tägliche Einträge, die beginnen, als sie vor drei Jahren wegen fahrlässiger Tötung und Alkohol am Steuer wieder ins
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