Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
durch den Kopf, dass die Gefangene namens Ellenora gerissen ist wie so viele Gefängnisinsassen. Bei ihrer ersten Befragung durch Gefängnismitarbeiter hat sie den Mund gehalten, um die Gelegenheit zu dieser kleinen Showeinlage zu bekommen. Hätte sie sich diesen Ausbruch schon früher geleistet, hätte man sie vermutlich längst in eine Hochsicherheitszelle verlegt, was wahrscheinlich ein beschönigender Ausdruck für Arrest oder Gummizelle ist.
Colins Überschuhe scharren über den Boden, als er in Kathleen Lawlers Zelle geht. Unterdessen klappt Marino auf dem lackierten Betonboden den Tatortkoffer auf. Er überprüft die Kameras, während ich mich an die Wand lehne, um Überschuhe über meine schweren schwarzen Stiefel mit ihrem tiefen Profil zu streifen. Beim Anziehen der Handschuhe spüre ich den Blick der Gefangenen auf mir und auch das, was er ausstrahlt, nämlich eine Todesangst, die an Hysterie grenzt. Tara Grimm klopft wieder an die Scheibe, als wolle sie verhindern, dass sie weiterredet. Ellenoras verängstigtes Gesicht weicht von der Tür zurück, als plötzlich die Fingerknöchel der Direktorin vor ihr erscheinen.
»Was bringt Sie darauf, dass sie nicht mehr atmen konnte?«, fragt Tara Grimm laut, um uns von ihren guten Absichten zu überzeugen.
»Ich bin deshalb so sicher, weil sie es gesagt hat«, erwidert Ellenora hinter der Tür. »Außerdem hatte sie Schmerzen und hat sich elend gefühlt. So müde, dass sie sich kaum bewegen konnte, und sie hat gekeucht. Ich kann nicht atmen. Ich weiß nicht, was mit mir los ist , hat sie geschrien.«
»Wenn jemand nicht atmen kann, kann er auch nicht sprechen. Deshalb frage ich mich, ob Sie sie vielleicht falsch verstanden haben. Wer keine Luft bekommt, kann nicht schreien, vor allem nicht so laut, dass man es durch eine Stahltür hört. Zum Schreien muss man nämlich tief Luft holen«, entgegnet Tara nachdrücklich, damit mir auch kein Wort entgeht.
»Sie hat aber gesagt, dass sie nicht sprechen kann! Dass sie beim Sprechen Probleme hat! Ihre Kehle war zugeschwollen!«, beteuert Ellenora.
»Jemandem zu sagen, man könne nicht sprechen, ist doch ein Widerspruch in sich, oder?«
»Das hat sie aber gesagt! Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen!«
»Zu sagen, dass man nicht sprechen kann, ist wie loslaufen, um Hilfe zu holen, weil man gelähmt ist.«
»Ich schwöre bei Gott und Jesus Christus, dass sie das gesagt hat!«
»Das ist unlogisch«, teilt Tara Grimm der Gefangenen auf der anderen Seite der dicken Stahltür mit. »Sie müssen sich jetzt beruhigen, Ellenora, und die Stimme senken. Sie antworten nur auf meine Fragen, und zwar ohne herumzuschreien oder Theater zu machen.«
»Aber es ist die Wahrheit, auch wenn es Ihnen nicht passt!« Ellenoras Aufregung wächst. »Sie hat um Hilfe gebettelt! So etwas Entsetzliches habe ich noch nie gehört! Ich kann nichts sehen. Ich kann nicht sprechen. Ich sterbe! O Scheiße, o mein Gott! Ich halte das nicht mehr aus! «
»Es reicht, Ellenora.«
»Genau das hat sie gesagt. Sie hat gekeucht und gebettelt. Bitte helft mir! Sie hatte Todesangst. O Scheiße , hat sie gebettelt. Ich weiß nicht, was mit mir los ist! Bitte helft mir doch! «
Wieder klopft Tara an die Scheibe. »Schluss mit den Kraftausdrücken, Ellenora.«
»Das hat doch sie gesagt, nicht ich. Sie sagte: Scheiße, helft mir bitte! Ich muss mir was geholt haben! «
»Ich frage mich, ob sie womöglich eine Allergie hatte. Gegen Lebensmittel oder Insekten«, meint die Direktorin zu mir. »Wespen oder Bienen vielleicht, Allergien, die sie nie erwähnt hat. Sie könnte beim Hofgang von etwas gestochen worden sein. Nur so ein Gedanke. Wenn es so heiß und schwül ist und alles blüht, wimmelt es von Wespen.«
»Anaphylaktische Reaktionen auf Insektenstiche, Meeresfrüchte, Erdnüsse oder sonstige Allergene laufen normalerweise sehr schnell ab«, widerspreche ich. »Und offenbar ist sie nicht schnell gestorben. Der Tod trat erst nach einer gewissen Zeit ein.«
»Sie fühlte sich mindestens anderthalb Stunden lang nicht wohl!«, beharrt Ellenora. »Warum haben sie so verdammt lang gebraucht?«
»Haben Sie gehört, ob ihr übel wurde?« Ich betrachte Ellenora durch die dicke Glasscheibe. »Klang es, als müsste sie sich übergeben oder hätte Durchfall?«
»Ob ihr schlecht geworden ist, weiß ich nicht. Aber sie sagte, sie hätte einen übersäuerten Magen. Ich habe nicht gehört, ob sie brechen musste. Die Klospülung auch nicht. Sie hat geschrien,
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