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Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)

Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)

Titel: Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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GPFW eingeliefert wurde. Doch nach dem 3. Juni, an dem sie das letzte Blatt des Notizblocks mit ihrer unverwechselbaren Handschrift von beiden Seiten gefüllt hat, endet das Tagebuch.
     
    Freitag, 3. Juni
    Der Regen prasselt auf eine Welt hernieder, die ich verloren habe, und als der Wind letzte Nacht durch den Maschendraht an meinem Fenster fegte, klang es, als verböge jemand eine Säge. Dissonanzen und ein Kreischen wie von Stahlkabeln unter Hochspannung. Wie ein gewaltiges Ungeheuer, gemacht aus Metall. Wie eine Warnung. Ich lag da und lauschte dem lauten metallischen Stöhnen und Vibrieren. Bald wird etwas geschehen, dachte ich mir.
    Vor ein paar Stunden, im Speisesaal beim Abendessen, konnte ich es spüren. Ich kann es nicht beschreiben. Es war nichts Fassbares wie ein Blick oder eine Bemerkung, sondern nur ein Gefühl. Doch es war unverkennbar, dass sich da etwas zusammenbraut.
    Alle schaufelten das aus undefinierbarem Fleisch bestehende Geschnetzelte in sich hinein, ohne mich anzusehen, so als wäre ich nicht vorhanden und als hätten sie ein Geheimnis vor mir. Ich habe mit niemandem gesprochen und niemandem ins Gesicht geschaut. Ich weiß, wann ich andere ignorieren muss, und sie wissen, dass ich es weiß. Hier drin wissen alle alles.
    Ich werde den Gedanken nicht los, dass es immer nur um Essen und Aufmerksamkeit geht. Menschen sind bereit zu töten, um etwas Essbares, und sei es Schlangenfraß, zu bekommen. Und mit Anerkennung, selbst unverdienter und eitler, ist es genau dasselbe. Ich habe die Rezepte in Inklings abgedruckt, und zwar ohne die Autorinnen zu nennen, weil sie es auch nicht im Entferntesten verdient hatten. Außerdem lag die Entscheidung ohnehin nicht bei mir. Ich habe hier nicht das Sagen, und dennoch befürchtete ich, dass man mir die Schuld geben würde. Ein kleiner Vorwurf kann hier große Folgen haben. Keine Ahnung, wie ich es sonst deuten soll. Meine Zeitschrift ist gerade herausgekommen, und seitdem ist plötzlich alles anders.
    Wir teilen uns mit sechzig Frauen eine Mikrowelle und rühren in Mamas Testküche, wie die anderen mich und meine kulinarische Werkstatt nennen, mehr oder weniger das gleiche zusammen. Zumindest war das früher so. Vielleicht werden sie es in Zukunft lassen, obwohl die leckeren Ideen von mir kamen. Die Rezeptideen sind immer mir und meiner Kreativität zu verdanken. Wer sonst macht sich Gedanken darüber, wenn man nichts als Schrott und nochmals Schrott als Ausgangsbasis hat?
    Schrott, den wir im Gefängnisladen kaufen. Schrott, den wir im Speisesaal abzweigen. Knusperstangen mit Rindfleisch-Käse- Geschmack, Tortillas und portionierte Butter. Ich habe ihnen beigebracht, wie man daraus Teigtaschen macht. Aus Aufbackbrötchen, mit Vanillecreme gefüllten Keksen und Brausepulver mit Erdbeergeschmack kann man einen Erdbeerkuchen zusammenbasteln. Ja, alle tragen etwas zu unserer Kochseite bei, weil ich damit angefangen habe.
    Mir ist es egal, wer welches Rezept einreicht, denn sie sind sowieso alle von mir! Wer hat ihnen denn beigebracht, wie man die Vanillecreme aus den Keksen kratzt und sie mit dem Brausepulver verrührt, damit eine rosafarbene Glasur entsteht? Wer hat ihnen gezeigt, wie man Aufbackbrötchen und zerkrümelte Kekse in Wasser aufweicht (und neue Formen erfindet, wie ich nicht müde werde zu erklären) und das Ganze in der Mikrowelle gart, bis sich die Mitte eindrücken lässt?
    Die Julia Childs dieses Gefängnisses! Also ich. NICHT IHR! Ich mache das, weil ich schon hier gelebt habe, als die meisten von euch noch gar nicht auf der Welt waren. Meine Rezepte sind so legendär, dass sie inzwischen zum Zitat, zum Symbol und zum geflügelten Wort geworden sind, dessen Ursprung längst in Vergessenheit geraten ist. Und deshalb glauben kleingeistige Ignorantinnen, sich ungeniert bedienen zu können. »A Good Man Is Hard to Find« ist nicht von Flannery O’Connor, sondern der Titel eines Liedes. »Und wenn ein Haus mit sich selbst uneins wird, kann es nicht bestehen« stammt nicht von Lincoln, sondern von Jesus. Niemand weiß mehr, was von wem ist, und so bedienen sich alle hemmungslos. Sie stehlen!
    Ich habe getan, was mir gesagt wurde, und die Rezepte – meine Rezepte – veröffentlicht, allerdings ohne Namen zu nennen, auch nicht meinen eigenen, was eine Ironie des beschissenen Schicksals ist. Ich bin die Betrogene. Und ihr vertilgt schmollend und miesepetrig euren Schlangenfraß und schweigt mich eisig an, als wärt ihr es, die man ungerecht

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