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Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)

Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)

Titel: Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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behandelt hat. Für mich ist an eurem Tisch kein Platz mehr frei, weil alles reserviert ist.
    Glaubt nicht, dass ich die Urheberin nicht kenne, ihr Lemminge, die ihr euch blind ins Meer führen lasst.
    In fünf Minuten geht das Licht aus. Und dann kommt wieder die Dunkelheit.
     
    Da ich an die Augen und Ohren jenseits der offenen Zellentür denke, sage ich nichts zu dem, was ich gerade gelesen habe. Ich merke auch nicht an, dass mindestens ein Notizblock fehlt, vielleicht ein Tagebuch, möglicherweise auch mehr als eines, in das Kathleen nach dem 3. Juni und, noch wichtiger, ihrer Verlegung in Haus Bravo Eintragungen gemacht hat. Ganz sicher hat sie nicht von einem Tag auf den anderen das Schreiben aufgegeben, insbesondere nicht in Einzelhaft.
    Während der letzten beiden Wochen hat sie sicher mehr geschrieben, nicht weniger, denn schließlich hatte sie dreiundzwanzig Stunden am Tag lang nichts anderes zu tun, als in ihrer winzigen Zelle ohne Aussicht und mit miserablem Fernsehempfang zu sitzen, isoliert von ihren Mitgefangenen und ohne ihren Arbeitsplatz in der Bibliothek, ihre Zeitschrift und ihren Internetzugang. Was mag sie wohl niedergeschrieben haben, dass jemand es uns vorenthalten will? Aber ich frage nicht nach und spreche auch nicht aus, wie sehr mich ihr Vergleich mit den Lemmingen neugierig gemacht hat.
    Sind mit Lemmingen ihre Mitgefangenen gemeint, und wenn ja, wer hat sie ins Meer geführt? Ich erinnere mich daran, wie Lola Daggette Tara Grimm vor wenigen Minuten den Stinkefinger gezeigt hat. Es kann durchaus sein, dass die Idee, gegen die Zellentüren zu treten, von Lola stammt. Prahlerisch, aggressiv, ohne Selbstbeherrschung und mit einem niedrigen IQ. Kathleen hat sie gefürchtet. Allerdings ist Lola Daggette nicht der Grund, warum Kathleen jetzt tot auf ihrem Bett liegt. Lola ist auch nicht dafür verantwortlich, dass die Gefangenen der mittleren Sicherheitsstufe angefangen haben, Kathleen im Speisesaal zu schneiden. Woher sollten die Insassinnen der anderen Häuser wissen, was Lola Daggette denkt oder sagt oder ob sie ein Problem mit jemandem hat? Sie sitzt genauso abgeschnitten von der Welt und einsam in ihrer Zelle im oberen Stockwerk, wie Kathleen in dieser hier gesessen hat.
    Vermutlich hat Kathleen jemand anderen gemeint. Ich denke an Tara Grimms Erklärung, Kathleen habe zu ihrem eigenen Schutz verlegt werden müssen, da sich herumgesprochen habe, dass sie eine verurteilte Kinderschänderin sei. Wer hat das Gerücht verbreitet? Was für Informationen waren das? Eindeutig welche, die die Direktorin anonymen Quellen zuschreiben konnte. Das Fernsehen, eine Mitgefangene, irgendeine unbekannte Person. Sie könne es nicht mit Sicherheit sagen. Das habe ich ihr schon gestern in ihrem Büro nicht abgenommen und glaube es noch immer nicht.
    Vermutlich ist sie selbst die Drahtzieherin. Ein Leichtes, Gefängnisinsassinnen wegen einer Banalität wie der Namensnennung in einer Zeitschrift aufzuwiegeln. Ohne Tara Grimms Genehmigung durfte nichts in Inklings veröffentlicht werden. Es war ihre Entscheidung, Rezepte ohne Namen abzudrucken. Die anderen Gefangenen waren gekränkt, und es stimmt, dass auch kleine Kränkungen weitreichende Folgen haben können. Deshalb wurde Kathleen verlegt. Und in ihrer Paranoia und Aufregung hat sie sich eine Erklärung zurechtgezimmert: Lola Daggette steckte hinter dieser grundlosen Einschränkung ihrer Freiheit, die ihr wie eine Bestrafung erschienen sein muss. Vielleicht hat man ihr gegenüber auch Andeutungen fallengelassen. Aufseher wie Officer Macon könnten sie so lange verspottet und verhöhnt haben, bis sie glaubte, Lola hätte ihr gedroht. Möglicherweise hat sie das ja auch. Doch das spielt keine Rolle. Lola hat sie jedenfalls nicht umgebracht.
    Ich gebe Marino nicht zu erkennen, dass etwas faul ist, als er in seinem weißen Schutzanzug an mir vorbeigeht und ein Digitalthermometer ans Fußende des Betts legt, um die Raumtemperatur zu ermitteln. Ein zweites Thermometer gibt er Colin, damit dieser die Körpertemperatur der Leiche messen kann. Trotz der Zeugenaussagen, die den Todeszeitpunkt auf ungefähr Viertel nach zwölf festlegen, werden wir ihn selbst auf der Grundlage der körperlichen Veränderungen nach dem Tod ermitteln. Menschen machen Fehler. Sie sind erschrocken und verängstigt und bringen Dinge durcheinander. Manchmal lügen sie auch.
    Ich schaue mich weiter um, in der Hoffnung, hier irgendwo einen Notizblock für den Monat Juni zu entdecken. An den

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