Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
den Topf, setzt ihn auf den Kocher und schaltet das Gas ein. »Deine Wachsamkeit in allen Ehren, aber meinst du nicht, dass du es übertreibst?«
»Ich habe versagt, ich hätte mehr tun können.«
Ich streue Salz in das Wasser auf dem Kocher und öffne Tomatendosen.
»Du hast deinen sterbenden Vater gepflegt und konntest ihn trotz jahrelanger Bemühungen nicht retten, und damit hast du den Großteil deiner Kindheit verbracht.« Das hat Benton schon öfter gesagt. »Kinder nehmen sich die Dinge anders zu Herzen als Erwachsene. Erlebnisse prägen sich ein. Und wenn etwas Schlimmes passiert, das sie nicht verhindern können, geben sie sich die Schuld.«
Ich rühre frisches Basilikum und Oregano in die Sauce, doch meine Hände zittern. Trauer steigt in Wellen in mir hoch, aber vor allem bin ich von mir selbst enttäuscht. Da kann Benton noch so oft das Gegenteil beteuern, ich war nachlässig. Zum Teufel mit meiner Kindheit. Darauf kann ich meine mangelnde Achtsamkeit nicht schieben. Dafür gibt es keine Entschuldigung.
»Ich hätte Lucy anrufen sollen«, sage ich zu Benton. »Ich bin dem Problem seit unserer letzten Begegnung im Haus aus dem Weg gegangen.«
»Das ist verständlich.«
»Aber deshalb noch lange nicht richtig. Ich werde jetzt mit ihr reden, sofern sie sich nicht weigert. Und daraus könnte ich ihr keinen Vorwurf machen.«
»Sie gibt nicht dir die Schuld«, erwidert er. »Mit mir ist sie ziemlich unzufrieden, doch dich beschuldigt sie nicht. Ich habe einige Gespräche mit ihr geführt. Jetzt bist du dran.«
»Ich gebe mir aber die Schuld.«
»Damit musst du aufhören.«
»Ich war gestern Nacht zornig, Benton. Ich habe Jaime verlassen.«
»Hör auf damit, Kay.«
»Ich habe sie beinahe gehasst, weil sie Lucy so etwas angetan hat.«
»Du hättest allen Grund gehabt, sie wegen ihres Verhaltens dir gegenüber zu hassen«, entgegnet er. »Das mit Lucy ist schlimm genug, doch den Rest weißt du noch gar nicht.«
»Den Rest haben wir heute in ihrer Wohnung aufgefunden. Sie ist tot.«
»Der Rest beginnt in Chinatown, und zwar nicht erst vor knapp zwei Monaten, wie Jaime Marino weisgemacht hat, als er mit dem Zug nach New York gefahren ist, um sich mit ihr zu treffen. Es fing schon im März an, in anderen Worten kurz nachdem Dawn Kincaid versucht hat, dich umzubringen.«
»Chinatown?« Wovon redet er?
»Sie hat dich an der Nase herumgeführt, damit du nach Savannah kommst und ihr hilfst. Sie hat das FBI an der Nase herumgeführt. Und sie hat Marino an der Nase herumgeführt«, erklärt Benton. »Forlini’s. Du erinnerst dich sicher an das Lokal, du warst schon öfter mit ihr dort.«
Forlini’s ist ein beliebter Treffpunkt von Anwälten, Richtern, Polizisten und FBI-Leuten. Die Tische dort tragen die Namen von Polizeichefs, Feuerwehrleuten und ebenjenen Politikern, die Jaime angeblich aus dem Amt gejagt haben.
»Natürlich kenne ich nicht alle Einzelheiten, die sie dir letzte Nacht erzählt haben könnte«, fährt Benton fort. »Doch nach deiner Schilderung am Telefon habe ich mich ein wenig umgehört und Nachforschungen angestellt. Zum Beispiel, wie die Agents hießen, die sie zu Hause aufgesucht haben sollen, um sie nach dir auszufragen. Beide arbeiten in der New Yorker Außenstelle, und keiner von ihnen war je in ihrer Wohnung. Sie hat im Forlini’s mit ihnen gesprochen, und zwar an einem Abend Anfang März, und sich bei ihnen eingeschmeichelt, was Jaime bekanntermaßen sehr gut konnte.«
»Indem sie ihnen Informationen über mich gegeben hat? Willst du darauf hinaus?« Ich suche eine Nudelsorte aus. »Damit ich in der schwächeren Position und deshalb auf ihre Hilfe angewiesen bin?«
»Ich glaube, allmählich geht dir ein Licht auf.« Bentons Miene ist gleichzeitig hart und traurig. Ich bemerke an der Haltung seiner Schultern und an seinem düsteren Gesichtsausdruck, wie enttäuscht er ist. Er hatte Jaime früher sehr gern, und mir ist klar, wie er sie inzwischen einschätzt, ganz gleich, ob sie noch lebt oder nicht.
»Das wäre wirklich unglaublich«, entgegne ich. »Dem FBI einzuflüstern, dass Dawn Kincaids Anschuldigungen möglicherweise der Wahrheit entsprechen könnten. Dass ich psychisch labil, gewalttätig und von Eifersucht getrieben bin. Der Himmel weiß, was sie sonst noch erzählt hat. Warum sollte sie so etwas tun?«
»Sie wurde immer verzweifelter und unglücklicher«, antwortet Benton. »Wir könnten bis ans Ende unserer Tage an ihr herumanalysieren, ohne einen Schritt
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