Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
ist ein noch wichtigerer Faktor. Es ist typisch, dass die Leute den drastischen Schritt, einen Notarzt zu rufen, vor sich her schieben. Seltsam daran ist, dass sie eher die Polizei verständigen als den Rettungsdienst oder die Feuerwehr, weil die meisten sich schämen, wenn sie sich verletzt oder versehentlich das Haus angezündet haben. Jemandem die Polizei auf den Hals zu hetzen macht ihnen weniger aus.«
»Ja, das stimmt allerdings.«
»Die Leute zögern es hinaus, lassen sich Zeit«, fahre ich fort, während wir unsere Wagen weiter vor uns her rollen. Die Hängepflanzen, mit denen die Balkone in allen Etagen begrünt sind, erinnern mich an den Efeu in Tara Grimms Büro, den sie wild wuchern lässt, um ihren Mitmenschen eine Lektion zu erteilen.
Sei vorsichtig, wenn etwas Wurzeln schlägt, denn irgendwann wird es von deinem ganzen Leben Besitz ergreifen. Offenbar hat auch in ihr etwas Wurzeln geschlagen.
»Sie hoffen, dass es schon wieder besser wird oder dass sie das Problem selbst lösen können, bis es dann zu spät ist«, erkläre ich Marino. »Bei Menschen in unserer Branche ist es noch schlimmer. Du, Jaime, Benton, Lucy und ich hätten allesamt Hemmungen, die Polizei oder einen Krankenwagen zu rufen. Wir wissen zu viel, sind schreckliche Patienten und befolgen normalerweise unsere eigenen Regeln nicht.«
»Ich weiß nicht. Wenn ich keine Luft mehr kriegen würde, würde ich wahrscheinlich schon anrufen«, erwidert Marino.
»Oder du würdest Betadorm oder Sudafed nehmen oder alles nach einem Inhalator oder einer Notfallspritze durchwühlen. Und wenn du dann merkst, dass das nichts nützt, wärst du vermutlich nicht mehr in der Lage, es jemandem zu erzählen.«
Offenbar hat Benton uns auf dem Balkon gehört, denn die Tür unserer Suite öffnet sich, noch ehe wir sie erreicht haben. Er kommt mit feuchten Haaren heraus, hat offensichtlich geduscht und sich umgezogen. Aber ich merke seinem Blick an, dass ihn der Vorfall belastet und er sich Sorgen macht. Sicher am meisten um Lucy. Ich habe seit unserem Gespräch vor dem Aufzug in Jaimes Haus nicht mehr mit ihr geredet.
»Wie ist der Stand der Dinge?«, erkundige ich mich nach meiner Nichte.
»Es geht so. Du siehst erschöpft aus.«
»Tut mir leid, ich hatte noch keine Gelegenheit zum Umkleiden, seit ich in der Wohnung war.« Es ist ein schlechtes Zeichen, dass von Lucy jede Spur fehlt.
Ganz sicher weiß sie, dass wir hier sind, und trotzdem bleibt sie in ihrem Zimmer.
»Inzwischen steht es mehr oder weniger fest, dass es an etwas liegt, das Jaime gegessen hat«, erkläre ich. »Ich tippe auf Botulinumtoxin in ihrem Essen und möglicherweise auch in dem von Kathleen Lawler. Das Massachusetts General Hospital sollte auch Dawn Kincaid darauf testen. Ich bin sicher, dass sie dort über fluoreszierende Tests verfügen, die hochempfindlich sind und schnell reagieren. Vielleicht solltest du jemanden dort darauf ansprechen. Einen der Agents, die mit ihrem Fall befasst sind«, schlage ich Benton vor.
»Offenbar lag ihre letzte Mahlzeit schon eine Weile zurück, als die Symptome einsetzten«, entgegnet er. »Ich glaube nicht, dass man von Gift im Essen ausgeht. Aber ich habe deinen Verdacht weitergegeben, dass wir es mit Botulismus zu tun haben könnten.«
»Vielleicht hat sie ja etwas getrunken«, wende ich ein.
»Kann sein.«
»Könntest du dir eine detaillierte Liste sämtlicher Gegenstände in ihrer Zelle und aller Dinge beschaffen, auf die sie sonst noch Zugriff hatte?«
»Dir wird man diese Informationen sicher nicht zugänglich machen«, gibt Benton zu bedenken. »Und mir vermutlich auch nicht, und zwar aus offensichtlichen Gründen. Schließlich hat Dawn Kincaid Vorwürfe gegen dich erhoben.«
»Dein einziger Fehler war, dass du nicht fest genug mit der Scheißtaschenlampe zugeschlagen hast«, platzt Marino dazwischen.
»Nun, an ihrem Zustand kann mir wenigstens niemand die Schuld geben«, entgegne ich. »Was ist mit dem Sushirestaurant? Wissen wir mehr darüber?«
»Kay, wer sollte mir etwas darüber erzählen?«, seufzt Benton.
»Klar, jetzt geht die große Heimlichtuerei los. Schließlich will ich ja nur verhindern, dass noch jemand ermordet wird.«
»Das wollen wir alle«, sagt er. »Allerdings ist deine Verbindung zu Dawn Kincaid, Kathleen Lawler und Jaime eine nicht unerhebliche Hürde, wenn es um den Austausch von Informationen geht. Du kannst nicht in diesen Fällen ermitteln, Kay.«
Ȇber meine Kleider und Schuhe kann ich zwar kein
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