Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Zeit«, spricht sie weiter, und ich stelle mir vor, wie sie Suchanfragen startet und Marinos E-Mails durchforstet. »In diesem Jahr war nichts.«
Das heißt, sie findet keinen Hinweis darauf, dass Marino seit Jaimes und Lucys Trennung E-Mails an sie geschrieben hat. Allerdings bedeutet es nicht, dass Marino und Jaime nicht anderweitig, zum Beispiel per Telefon, Kontakt hatten. Schließlich ist er nicht naiv und weiß, dass Lucy Zugang zu sämtlichen Computern des CFC hat. Außerdem weiß er, dass sie auch nachsehen würde, wenn sie es vom juristischen Standpunkt her eigentlich nicht dürfte, sofern ihr danach ist. Es würde mich wirklich sehr ärgern, falls Marino in Verbindung zu Jaime stand, ohne es mir gegenüber zu erwähnen.
»Hättest du etwas dagegen, ihn zu fragen?«, sage ich zu Lucy und reibe mir die Schläfen. Mein Schädel pocht.
Sie hat etwas dagegen, denn ich höre das Widerstreben in ihrem Tonfall, als sie antwortet. »Klar, ich kann mit ihm reden. Aber er ist noch im Urlaub.«
»Dann stör ihn bitte bei seinem Angelausflug.«
Ich hänge ein, als der Mann mit der Baseballkappe in der Waffenhandlung verschwindet, und komme zu dem Schluss, dass er nicht auf mich geachtet hat. Ich interessiere ihn nicht und werde allmählich ein bisschen paranoid. Als ich an der Waffenhandlung vorbeikomme, bemerke ich denselben schwarzen Mercedes Kombi mit dem Aufkleber der Navy-Taucher vor Monck’s Drugstore. Dieser ist klein, überladen und menschenleer und erinnert mich an einen Kolonialwarenladen. Die Gänge sind mit Artikeln für den Pflegebedarf wie Gehstöcken, Stützstrümpfen und Aufstehhilfen vollgestopft. Freundliche Aushänge überall werben für individuell hergestellte Medikamente, die noch am selben Tag frei Haus geliefert werden. Ich suche die Regale mit den Schmerztabletten ab, während ich überlege, welchen Grund Jaime Berger haben könnte, sich für Lola Daggette zu interessieren.
Ich weiß genau, wie unerbittlich Jaime sein kann. Falls Lola Daggette Informationen besitzt, die aus irgendeinem Grund wichtig sind, wird Jaime Himmel und Erde in Bewegung setzen, damit die verurteilte Mörderin sie nicht mit ins Grab nimmt. Eine andere Erklärung für Jaimes Besuch im GPFW kann ich mir nicht denken. Allerdings begreife ich immer noch nicht, was ich mit der Sache zu tun habe und welche Rolle sie mir zugedacht hat. Nun, du wirst es ja gleich herausfinden , sage ich mir, während ich mit einer Dose Ibuprofen-Gelkapseln zur unbesetzten Kasse gehe. In ein paar Stunden wirst du alles wissen . Ich komme zu dem Schluss, dass Wasser eine gute Idee wäre, kehre noch einmal um zum Kühlschrank, entscheide mich stattdessen für Eistee und stelle mich dann wieder wartend an die Theke.
Ein älterer Mann im weißen Kittel ist im Hinterzimmer damit beschäftigt, Tabletten abzuzählen und Rezepte zu bearbeiten. Sonst kann ich niemanden entdecken und warte weiter. Schließlich öffne ich die Ibuprofen, nehme drei Gelkapseln und spüle sie mit Eistee hinunter. Meine Ungeduld wächst.
»Verzeihung«, mache ich mich bemerkbar.
Der Apotheker würdigt mich kaum eines Blickes und ruft über die Schulter gewandt: »Robbi, kannst du dich um die Kasse kümmern?« Als niemand antwortet, hält er in seiner Tätigkeit inne und kommt zur Theke.
»Das tut mir wirklich leid. Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich allein im Laden bin. Offenbar sind alle unterwegs, Lieferungen ausfahren, oder es ist schon wieder Pausenzeit. Wer weiß?« Lächelnd nimmt er meine Visa-Karte entgegen. »Darf es sonst noch etwas sein?«
Als ich zum Transporter zurückkehre, hat es aufgehört zu regnen, und ich stelle fest, dass der schwarze Mercedes Kombi fort ist. Während ich davonfahre, bricht die Sonne durch die Wolken, und der nasse Asphalt glänzt im Licht. Dann kommt die Altstadt in Sicht. Niedrige Gebäude aus Ziegeln oder Stein, die sich bis zum Savannah River erstrecken. Im Hintergrund hebt sich die berühmte Hängebrücke, die Talmadge Memorial Bridge, vom aufgewühlten Himmel ab. Sie würde mich nach South Carolina bringen, wenn das mein Ziel wäre. Ich denke an wunderbare Orte wie Hilton Head und Charleston, an die Eigentumswohnung mit Meerblick, die Benton früher in Sea Pines hatte, und an das denkmalgeschützte Kutscherhaus mit dem prachtvollen Garten, das einmal meines war.
Ein großer Teil meiner Vergangenheit hat sich hier im tiefen Süden abgespielt, und ich bin in nostalgischer und angespannter Stimmung, als ich das Customhouse
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