Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
machen«, erwidert er. »Jaime und ich haben in New York darüber geredet. Sie hat den Schritt ja auch gewagt und meinte, ich solle es mir überlegen. Sie könne bei manchen Fällen meine Hilfe gebrauchen, und ich weiß, dass du auch Aufträge für mich hättest. Ich möchte niemandem gehören.«
»Ich habe es nie so betrachtet, dass du mir gehörst.«
»Ein wenig mehr Unabhängigkeit wäre gut für meine Selbstachtung. Sicher kannst du das nicht verstehen, denn jemand wie du hat ja mit der Selbstachtung keine Probleme.«
»Du würdest dich wundern«, antworte ich.
»Ich wünsche mir eine kleine Wohnung am Wasser und die Möglichkeit, Motorrad zu fahren, zu angeln und für Menschen zu arbeiten, die mich respektieren«, erklärt er.
»Hat Jaime dich als Berater im Fall Lola Daggette beauftragt?«
»Sie zahlt mir nichts dafür. Ich habe ihr gesagt, das ginge nicht, solange mein Verhältnis zum CFC nicht geklärt ist, weshalb ich mit dir darüber sprechen würde«, erwidert Marino. Im nächsten Moment höre ich einen Schlüssel im Schloss klicken, und die Tür geht auf.
Jaime Berger kommt herein. Der köstliche Duft von Fleisch, Pommes und Trüffeln steigt mir in die Nase.
10
Jaime stellt zwei große blaue Papiertüten auf den steinernen Küchenblock. Für eine New Yorker Staatsanwältin, selbst eine ehemalige, die sich gerade in geheimer Mission an Georgias Küste aufhält, wirkt sie bemerkenswert entspannt und fröhlich. Und das, obwohl diese Operation Überwachungskameras und wahrscheinlich auch eine Waffe erforderlich macht, die ich in der Hobobag aus braunem Rindsleder über ihrer Schulter vermute.
Sie hat eine schicke Frisur, und ihr dunkles Haar ist ein wenig länger, als ich es in Erinnerung habe. Ihr Gesicht wirkt markant und sehr hübsch, und sie bewegt sich in ihrer ausgewaschenen Jeans und dem lockeren weißen Hemd so anmutig wie eine Frau, die nur halb so alt ist wie sie. Schmuck trägt sie keinen, und sie ist kaum geschminkt. Die meisten Menschen könnte sie mit ihrem Auftreten wohl täuschen, aber mich nicht. Ich erkenne das Düstere in ihrem Blick und ihr starres Lächeln.
»Entschuldige, Kay«, beginnt sie und hängt ihre scheußliche, offenbar schwere Handtasche über die Rückenlehne eines Barhockers. Ich frage mich, ob es an Marinos Einfluss liegt, dass sie eine Pistole mit sich herumschleppt.
Oder hat sie die Angewohnheit von Lucy übernommen? Mir fällt ein, dass Jaime sich mit einer in einer Tasche verborgenen Waffe vermutlich strafbar macht. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass sie eine vom Staat Georgia ausgestellte Genehmigung dazu besitzt, da sie zwar eine Wohnung gemietet hat, aber nicht offiziell als Einwohnerin gilt. Überwachungskameras und eine verbotene Waffe. Vielleicht sind das nur ganz normale Sicherheitsvorkehrungen, weil sie die hässlichen Seiten des Lebens ebenso gut kennt wie ich. Oder könnte Jaime übertrieben ängstlich und labil geworden sein?
»Ich würde kochen vor Wut, wenn jemand so etwas mit mir durchziehen würde«, fährt sie fort, »doch du wirst es bald verstehen, wenn du es nicht schon tust.«
Ich überlege, ob ich sie umarmen soll, doch sie ist schon damit beschäftigt, die Essenstüten zu öffnen, was ich so deute, dass sie lieber einen Sicherheitsabstand zu mir halten will. Also bleibe ich auf dem Sofa sitzen und gebe mir Mühe, wegen des letzten Weihnachtsfests in New York und all der anderen gemeinsam verbrachten Stunden nicht sentimental zu werden. Was würde Lucy wohl tun, wenn sie sehen könnte, wo ich jetzt bin? Ich male mir lieber nicht aus, wie sie reagieren würde, wenn sie wüsste, dass Jaime, sehr hübsch, aber mit dem Blick einer Gejagten und einem gekünstelten Lächeln auf den Lippen, Essenstüten auspackt. Und zwar in einem Loft, das dem von Lucy in Greenwich Village ähnelt, und mit einer Handtasche neben sich, in der sich vielleicht eine Waffe befindet.
Ich werde von einem wachsenden Argwohn befallen, der sich rasch einem kritischen Punkt nähert. Obwohl Jaime gewöhnt ist zu bekommen, was sie will, hat sie Lucy widerstandslos aufgegeben. Und nun erfahre ich, dass sie auch ihre Karriere einfach hingeworfen hat. Weil es ihr aus irgendeinem Grund in den Kram passt , schießt mir der vorwurfsvolle Gedanke durch den Kopf. Ich muss mir vor Augen halten, dass es nicht weiter wichtig ist. Nichts ist wichtig, außer dem Umstand, dass ich hier bin, dem Grund dafür und meinem Verdacht, der sich vermutlich bestätigen wird – ich
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