Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
nicht das erste und wird auch sicher nicht das letzte Mal sein, dass mir an den Haaren herbeigezogene Verfehlungen vorgeworfen werden, sei es nun die Fälschung von Totenscheinen und Laborergebnissen oder die irrtümliche Kennzeichnung von Beweisstücken. In meiner Branche gibt es immer jemanden, der mit den Resultaten unzufrieden ist. Die statistische Chance, dass entweder die eine oder die andere Seite aufgebracht reagiert, liegt bei fünfzig Prozent.
»Erinnere mich nächstens daran«, meint Jaime zu Marino. »Dann kaufe ich deine Lieblingssorte. Sharp’s, Buckler, Beck’s. In der Drayton Street, nicht sehr weit von hier, gibt es einen Supermarkt, der alkoholfreies Bier führen müsste. Entschuldige, dass ich es vergessen habe.«
»Kein Mensch trinkt freiwillig diese Plörre. Warum also sollte jemand dran denken?« Als er aufsteht, knistert wieder das Leder, als wäre der gewaltige Sessel mit Pergamentpapier bezogen. »Hast du den Parkschein für den Transporter da?«, sagt er zu mir. »Hört sich an, als würde die Lichtmaschine bald den Geist aufgeben. Das Problem ist nur, um diese Uhrzeit einen Mechaniker aufzutreiben.« Er schaut auf die Uhr und sieht Jaime an. »Ich gehe besser los.«
Ich krame den Parkschein aus der Handtasche und reiche ihn Marino. Als er die Wohnungstür öffnet, lässt die Alarmanlage ein lautes Zirpen vernehmen, das an das Geräusch eines Rauchmelders mit schwächelnder Batterie erinnert. Wieder muss ich an das Haus der Jordans denken und frage mich, ob sie in jener Nacht tatsächlich die Alarmanlage nicht eingeschaltet hatten, und wenn ja, warum nicht. Waren sie einfach sorglos und vertrauensselig? Wusste der Täter, dass eine Alarmanlage nicht das Problem sein würde, oder hatte er einfach nur Glück?
»Sag mir, wenn du los möchtest. Ich hole dich dann ab«, meint Marino zu mir. »Entweder mit dem Transporter, wenn er wieder funktioniert, oder mit dem Taxi. Ich übernachte heute auch im Hyatt. Wir sind auf derselben Etage.«
Es wäre zwecklos, ihn zu fragen, woher er meine Etage kennt.
»Ich habe eine Tasche für dich gepackt«, fügt er hinzu. »Arbeitskleidung und ein paar andere Sachen, da du ja ursprünglich nicht so lange bleiben wolltest. Ist es in Ordnung, wenn ich sie in dein Zimmer stelle?«
»Warum nicht?«, erwidere ich.
»Das wäre einfacher, wenn du einen Ersatzschlüssel hättest.«
Ich stehe wieder auf und gebe ihm den Schlüssel. Dann ist er fort. Jaime und ich bleiben allein zurück, und ich vermute, dass das der wahre Grund ist, warum er sich verabschiedet hat. Nicht das dringende Bedürfnis nach einem Sixpack alkoholfreiem Bier oder weil er unbedingt noch so spät sein Auto reparieren lassen muss, obwohl jetzt sicher alle Werkstätten geschlossen sind. Wahrscheinlich hat Jaime ihn angewiesen, sich nach dem Essen zu verdrücken. Oder sie hat ihm ein Zeichen gegeben, das ich verpasst habe. Außerdem muss ich annehmen, dass Marino, als er, angeblich in der Absicht, Urlaub zu machen, Boston verließ, meine Reisetasche bereits bei sich hatte. Es besteht kein Zweifel: Dass ich jetzt in diesem Moment in Jaimes Wohnung sitze, wurde sorgfältig geplant.
Jaime schlüpft aus den blauen Ledermokassins, steht vom Sofa auf und geht lautlos auf bestrumpften Füßen über den antiken Parkettboden in die Küche, um die Weinflasche zu holen. Außerdem teilt sie mir mit, sie habe auch einen sehr guten Scotch da, falls ich etwas Stärkeres wolle.
»Lieber nicht«, antworte ich, da ich an den morgigen Tag denke.
»Ich glaube, wir könnten beide einen Schluck vertragen.«
»Nein, danke. Aber tu dir keinen Zwang an.«
Ich sehe zu, wie sie einen Schrank öffnet und den Johnny Walker Blue herausnimmt.
»Was könnte das FBI oder sonst jemand gegen mich in der Hand haben?«, erkundige ich mich.
»Ich agiere lieber als zu reagieren«, entgegnet sie, als ob ich eine völlig andere Frage gestellt hätte. »Ich halte nichts für selbstverständlich.«
Sie schraubt den Verschluss von der Flasche Scotch ab. Ich glaube nicht, dass sie ursprünglich vorhatte, den edlen Tropfen allein zu trinken. Vermutlich hat sie gedacht, sie würde bis spät in die Nacht mit mir zusammensitzen und mich weichklopfen können, bis ich ihren Plänen zustimme.
»Aufmerksamkeit ist manchmal eine tödliche Waffe«, fügt sie hinzu. »Und das könnte genau ihre Absicht sein.«
»Wessen Absicht?«, will ich wissen, weil ich den Verdacht habe, dass wir hier nicht von Jaimes Absichten sprechen.
12
Sie
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