Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
häufig der Schlüssel steckte. Entweder das, oder die fragliche Person hat das Haus zuvor ausspioniert.«
»Dawn Kincaid ist genau so ein Typ, der andere ausspioniert «, erwidert Marino. »Vermutlich wusste sie, dass ein wohlhabender Arzt dort wohnt. Sicher hat sie sich vorher kundig gemacht.«
»Und dann hatte sie das Glück, dass der Schlüssel steckte und die Alarmanlage aus war?«
»Kann doch sein.«
»Wissen wir, wo sie während ihres Aufenthalts in Savannah vor neun Jahren übernachtet hat und wie lange sie geblieben ist?«
»Nur dass das Herbstsemester in Berkeley am 7. Dezember endete und das Frühjahrssemester am 15. Januar begann«, antwortet Marino. »Sie hat das Herbstsemester ordentlich abgeschlossen und im Frühling weiter ihre Seminare besucht.«
»Also hat sie die Ferien hier verbracht«, schlussfolgere ich. »Sie kann schon seit einigen Wochen in der Stadt gewesen sein, bevor sie ihre Mutter zum ersten Mal sah.«
»Und während dieser Zeit könnte sie Lola Daggette kennengelernt haben«, ergänzt Marino.
»Sie hat sie zumindest wahrgenommen«, entgegne ich. »Ich bin nämlich nicht sicher, ob sich die beiden überhaupt persönlich kennen. Inzwischen könnte Lola wegen der Fälle in Massachusetts oder aus ihren Gesprächen mit Jaime und anderen Leuten wissen, wer Dawn Kincaid ist. Vielleicht ahnt sie sogar, dass Dawn etwas mit dem Mord an den Jordans zu tun hat. Denn ganz gleich, was Jaime auch behauptet, können wir nicht feststellen, wie viel über die neuen DNA-Befunde durchgesickert ist. Doch ganz gleich, wie Lolas Informationsstand auch aussieht – wir dürfen nicht davon ausgehen, dass sie sich nach neun Jahren an Dawn Kincaid erinnert. Zumindest nicht als jemanden, den sie namentlich kannte. Welche Seminare hatte Dawn denn damals belegt?«
»Irgendetwas mit Nanotechnologie.«
»Dann war sie aller Wahrscheinlichkeit nach am Institut für Materialkunde und Ingenieurwissenschaften eingeschrieben.« Ich betrachte das Haus, wo vier Menschen im Schlaf ermordet worden sind. Den Tathergang, wie er mir geschildert worden ist, finde ich noch immer unverständlich.
Warum haben sie die Alarmanlage nicht aktiviert? Weshalb haben sie den Schlüssel stecken lassen, insbesondere während der Feiertage, wenn Einbrüche für gewöhnlich häufiger vorkommen als sonst?
»Galten die Jordans allgemein als schlampig oder leichtsinnig? «, erkundige ich mich. »Waren sie hoffnungslos idealistisch und naiv? Denn normalerweise sind Leute, die denkmalgeschützte Häuser in der Altstadt bewohnen, ganz besonders vorsichtig, wenn es um die Sicherung ihres Anwesens und ihre Privatsphäre geht. Sie schließen das Gartentor ab und schalten die Alarmanlage ein. Und wenn es nur dem Zweck dient, Touristen daran zu hindern, in ihrem Garten oder auf ihrer Veranda herumzuspazieren.«
»Das ist mir klar, und es stört mich auch gewaltig«, stimmt Marino zu.
Seine dunkle Gestalt lehnt sich näher zu mir hinüber, als er die Villa mustert. Das Haus macht ganz und gar keinen unheimlichen Eindruck, wenn man nicht wüsste, was vor neun Jahren etwa um diese Uhrzeit dort geschehen ist. In den frühen Morgenstunden nach Mitternacht, vermutlich zwischen eins und vier, habe ich gelesen.
»Seit 2002 hat sich in Sachen Sicherheitsbewusstsein eine Menge geändert, besonders hier in Savannah«, fährt Marino fort. »Ich garantiere dir, dass auch die Leute, die eine eher laxe Einstellung zu ihren Alarmanlagen hatten und die Schlüssel stecken ließen, das inzwischen nicht mehr tun. Jeder fürchtet sich vor Kriminalität, und ganz bestimmt hat niemand vergessen, dass eine ganze Familie in ihrer viele Millionen teuren Villa im Schlaf ermordet worden ist. Klar, die Menschen verhalten sich oft leichtsinnig, doch es kommt mir besonders komisch vor, denn Clarence Jordan stammte aus einer wohlhabenden Familie. Außerdem war er wegen seines ehrenamtlichen Engagements viel unterwegs, vor allem während der Feiertage. Zu Thanksgiving, Weihnachten und Neujahr war er am meisten beschäftigt, da dann in den Kliniken, Notaufnahmen, Obdachlosenunterkünften und Suppenküchen eine Menge los ist. Man möchte doch meinen, dass er sich Gedanken um die Sicherheit seiner Frau und seiner beiden kleinen Kinder gemacht hat.«
»Wir wissen nicht, ob das wirklich so war.«
»Offenbar ist er ins Bett gegangen, obwohl die Alarmanlage nicht an war«, wiederholt Marino die Tatsache, die mich immer weiter beschäftigt.
»Was ist mit den Aufzeichnungen der
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