Blut für Blut: Thriller (German Edition)
sich müde die Augen. Er spürte die Hautfalten unter seinen Fingern und wurde plötzlich von der heftigen Angst überwältigt, hier und jetzt zwischen den silbernen Laken zu sterben. Das Herz hämmerte heftig in seiner Brust, kalter Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus. Ruhig atmen, ganz ruhig atmen, ermahnte er sich. Langsam bekam er seinen Atem unter Kontrolle, schwang die Beine über die Bettkante, steckte die Füße in die Pantoffeln und stand auf. Er musste etwas tun, aber was? Sein Magen knurrte vor Hunger, er schaute zur Uhr hin und stellte fest, dass er insgesamt sechzehn Stunden im Bett verbracht hatte. Er beschloss, in die Küche zu gehen und sich etwas zu essen und zu trinken zu holen und anschließend kalt zu duschen. Er musste auftanken, einen klaren Kopf bekommen.
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Sejrs Kopfschmerzen waren immer noch zu stark, um sonderlich viel zu tun. Er hatte mit Jarler besprochen, dass er sich eine Abhörausrüstung besorgen würde. Es wäre optimal, ein Geständnis auf Band zu bekommen, wenn er den Verdächtigen konfrontierte, doch Sejr hatte keine Ahnung, woher er die bekommen sollte. Er starrte durch das schmutzige Fenster auf die Straße, wo sonnengebräunte Menschen vorbeiradelten. Eine Frau spazierte gemächlich mit einem Kinderwagen vorbei, während sie ein kleineres Kind an der Hand hielt und mit ihm plauderte. Das runde Gesicht des Kindes leuchtete auf wie eine kleine Sonne, während sie miteinander redeten. Wie konnten die Leute in Straßen und Gassen herumlaufen und die Wärme genießen, Eis essen, plaudern und an den Strand fahren? Er begriff es nicht. Plötzlich wurde ihm klar, dass er nicht wusste, wie man das Leben lebt. Das hatte er nie getan, und diese Erkenntnis raubte ihm die letzte Kraft. Hier stand er, im Herbst seines Lebens, und musste einsehen, dass er das Fundamentalste nicht beherrschte: zu leben.
Er zitterte, die Entzugserscheinungen waren nie schlimmer gewesen, und nach einem kurzen Zögern beschloss er, in die Lanterne zu gehen. Dort unten fühlte er sich sicher, dort konnte er alles gründlich durchdenken. Es sagte schließlich niemand, dass er sich wieder betrinken musste, er konnte sich mit einem oder zwei Pils begnügen, um die schlimmsten Entzugserscheinungen zu lindern.
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Es war Nachmittag geworden, als Rebekka im Präsidium eintraf. Reza nahm sie freudestrahlend in Empfang, und sie stärkte sich mit einem frischen Kaffee, bevor sie losfuhren, um Randi Lindgren, Peter Lindgrens Frau, einen Besuch abzustatten. Reza erzählte, dass Randi Lindgren nur widerwillig zugestimmt hatte, vernommen zu werden, und dass sie mehrmals nachgefragt hatte, ob das denn wirklich nötig sei, da sie Kissi so gut wie gar nicht gekannt und nur wenige Male getroffen habe. Das war es leider, hatte Reza ihr erklärt, aber sie konnte wählen, ob sie ins Präsidium kommen oder bei sich zu Hause befragt werden wollte. Randi Lindgren hatte gezischt: zu Hause, wenn es denn nicht anders geht.
Sie parkten vor einem weiß verputzten Backsteinhaus in den Außenbezirken von Hørsholm und hatten den Finger noch nicht auf der Klingel, als die Tür auch schon aufging und Randi Lindgren vor ihnen stand. Sie war eine große, kräftig gebaute Frau mit kurzen blonden, lockigen Haaren und klaren blauen Augen. Sie begrüßte sie mit einem energischen Händedruck und führte sie in ein großes, helles Wohnzimmer mit Blick auf einen üppigen Garten. Sie nahmen auf einem riesigen mausgrauen Sofa Platz, und Randi Lindgren servierte ihnen Pellegrino in schlanken grünen Gläsern, die zu der Flasche mit dem italienischen Mineralwasser passten.
»Ich verstehe immer noch nicht ganz, warum wir uns treffen müssen, um miteinander zu reden. Ein Telefongespräch hätte es doch auch getan. Wie ich Ihnen gesagt habe«, Randi machte eine Kopfbewegung zu Reza hin, »habe ich Kissi eigentlich gar nicht gekannt. Ich meine, ich bin ihr natürlich auf einigen Veranstaltungen zusammen mit meinem Mann in Lundely begegnet, er kennt sie seit dem Studium am Seminar, aber privat haben wir nicht miteinander verkehrt, und ich weiß nichts über ihr Leben.« Randi Lindgren seufzte tief und schnipste mit den Fingern ein paar imaginäre Flusen von einem Sofakissen.
»Wir sprechen mit allen in Kissis Umfeld, und dazu gehören Sie auch. Das ist eine reine Routinebefragung, und nur zu Ihrer Info, wir und unsere Kollegen haben über hundertfünfzig Personen befragt.«
Randis wachsamer Gesichtsausdruck wurde milder, und sie bat darum
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