Blut für Blut: Thriller (German Edition)
warmherzige, lebenskluge Kissi. Der Gedanke an sie ließ sein Herz hart und unregelmäßig schlagen, und er trank einen Schluck von dem Cognac, der in seinen Händen lauwarm geworden war.
Es war 23 Uhr 58. Er starrte das Telefon an, das neben ihm auf dem Küchentisch lag. Er sehnte sich danach, Kissis Stimme zu hören, die er so gut kannte. Den leicht heiseren Diskant, das frohe Lachen. Er griff nach dem Telefon und drückte die vertraute Nummer. Es klingelte, und er spürte ein hoffnungsvolles Ziehen im Bauch. Sie würde sich gleich melden, verschlafen, aber mit froher Stimme. Das würde sie. Es würde ihr gut gehen, und sie würde sich für seine Fürsorge bedanken. Das Telefon klingelte weiter. Sie meldete sich nicht. Er hatte es gewusst, hatte es gespürt. Er ließ es noch mehrere Male klingeln, bevor er auflegte. Dann starrte er einen Moment stumm vor sich hin, bevor er sich schwerfällig erhob, um nach oben zu gehen. Draußen in der Diele trat er mit den nackten Füßen auf einen Legostein, den er im Dunkeln nicht gesehen hatte, und das harte Plastik bohrte sich tief in den Fußballen. Der Schmerz war scharf, intensiv, und er spürte, wie sich mit gewaltiger Kraft ein Schrei seinen Weg vom Bauch her zum Mund suchte. Er musste sich fest auf die Lippe beißen, um nicht laut zu schreien. Als er die Treppe zum Schlafzimmer hinaufhumpelte, hatte er Blutgeschmack im Mund.
DIENSTAG, 28. JUNI 1988
Liebes Tagebuch
Die Erwachsenen sagen, dass es heilsam ist, sich die Toten anzusehen.
Damit man besser versteht, was passiert ist.
Ich wollte nicht, aber sie haben mich gezwungen. Charlotte war so kalt, und ich hätte am liebsten meinen Pullover ausgezogen und ihr angezogen, damit ihr warm wird.
Sie sah nicht wie sie selbst aus. Sie erschien plötzlich so klein.
Wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwichen ist.
Søs
FREITAG, 20. JUNI
Der Regen hatte aufgehört, und die Sonne schien grell und unbarmherzig, als sie sich am nächsten Morgen vor dem Teilum-Gebäude nahe dem Reichskrankenhaus trafen. Reza wartete bereits vor dem Eingang, als Rebekka ihr Auto neben dem Gebüsch parkte, das an den FælledPark grenzte. Sie und Michael hatten verschlafen; trotzdem war es ihr gelungen, nicht mehr als fünf Minuten zu spät zu kommen, und sie sprang die Treppe zu ihrem Kollegen hoch, der schelmisch lächelte, als er sie sah.
»Na, war es so schwer, sich voneinander loszureißen?«
»Das war es wohl.« Sie spürte seinen neugierigen Blick auf sich ruhen und musste einfach lächeln. »Ist Brodersen noch nicht da?«
Reza schüttelte den Kopf, und Rebekka wollte gerade etwas sagen, als sie seine energischen Schritte auf dem Asphalt hörten. Der Chef der Mordkommission war eingetroffen.
Sie fuhren mit dem geräumigen Fahrstuhl zum »Mordzimmer« hoch, dem größten Raum des Gebäudes, der Platz für etliche Beobachter bot.
»Zwei Sekunden, dann geht es los.«
Drüben bei dem Stahlwaschbecken stand die leitende Rechtsmedizinerin, Inge Aamund, und untersuchte Kissis Leber auf Verletzungen und Krankheiten, während Reza, Rebekka und Brodersen sich Kittel und Mundschutz anzogen. Es roch nach Spiritus und Desinfektionsmitteln und ein wenig süßlich nach Leiche. Rebekkas Magen zog sich augenblicklich zusammen. Sie gewöhnte sich nie an den Geruch, egal wie vielen Obduktionen sie beiwohnte. Bei dem Geruch nach Blut und Fleisch drehten sich ihr die Eingeweide um. Mit den Jahren war es so schlimm geworden, dass sie freiwillig keine Metzgerei mehr betrat, wo der Geruch unverkennbar an den im Obduktionssaal erinnerte.
Mitten im Raum, auf einem blanken Stahltisch mit Abfluss, lag Kissi Schacks Leiche. Schmutz, Gras und Blut waren inzwischen von ihr abgewaschen worden, und man sah deutlich die brutalen Misshandlungen, vor allem im Gesicht. Das linke Auge war eingedrückt, die Wangenknochen waren geschwollen und blau, und dort, wo einmal die Nase gesessen hatte, hingen ein paar zerfetzte Fleischreste – die Nasenhöhle selbst war freigelegt. Die Gesichtshaut war rotviolett von Leichenflecken und wies zahlreiche Schrammen und tiefe, schwarze Risse von Schlägen auf. Der übrige Körper war mit Hämatomen und Leichenflecken übersät. Die Rechtsmedizinerin hatte von den Schulterblättern ausgehend einen Y-Schnitt vorgenommen, und ein Assistent schloss den Körper gerade wieder mit einem groben schwarzen Faden.
»Ach, da seid ihr ja.« Inge Aamund legte die Leber zurück auf die Waage und machte sich schnell ein paar Notizen auf dem
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