Blut für Blut: Thriller (German Edition)
und wieder war er deutlicher zu spüren als sonst, war wie ein schwarzes Gespenst.«
»Wann ist das passiert?«
»In der Zeit nach unserer Scheidung …«
»Kann es sein, dass sie sich einer Freundin oder ihrer Schwester anvertraut hat?«
Jerome schüttelte entschieden den Kopf.
»Das ist undenkbar, ich war ihr engster Vertrauter. Wann bekommen wir übrigens Kissi zurück? Wir müssen ihr doch ein schönes Begräbnis ausrichten. Das werden Liam und ich wohl übernehmen. Die Kinder sind völlig am Boden zerstört, Marie-Louise zieht sich in sich selbst zurück, und Thomas weint ununterbrochen.«
»Ich finde das heraus, sobald ich zurück im Präsidium bin, aber wir haben immer noch nicht alle Ergebnisse von den Proben. Wenn es um ein Verbrechen geht, dauert es immer etwas länger, bevor wir die Leiche freigeben, doch ich denke, dass das innerhalb einer Woche geschehen wird. Ich werde das herausfinden und mich bei Ihnen melden.«
»Danke. Es soll doch ein schönes Begräbnis werden«, sagte Jerome.
»Das soll es. Kissi verdient das Beste.« Liam stand plötzlich in der Tür, und beide fuhren beim Klang seiner Stimme zusammen. Rebekka fiel auf, dass Jerome leicht errötete, als wäre er bei etwas Verbotenem überrascht worden. Liam trat hastig zu ihnen.
»Ich habe nicht gewusst, dass wir Besuch erwartet haben, dann wäre ich doch zu Hause geblieben. Aber wie ich sehe, habt ihr schon Tee getrunken. Soll ich ein paar Gurkensandwiches machen?« Rebekka schüttelte den Kopf.
»Vielen Dank, ich bin schon so gut wie fort.«
Jerome begleitete sie zur Wohnungstür. Er hatte sich wieder in sich zurückgezogen und wirkte geistesabwesend und alt.
»Es muss Sie sehr freuen, dass Ihr Sohn malt, wo Sie selbst so an Kunst interessiert sind.« Rebekka lächelte Jerome freundlich zu, während sie ihre Jacke anzog. Er zuckte leicht mit den Schultern.
»Das tut es, sicher. Er ist in Künstlerkreisen gut gelitten, aber leider steht sein großer Durchbruch noch aus. Er wird demnächst in der Galerie Lithoart in Charlottenlund ausstellen, und vielleicht wird man da auf ihn aufmerksam. Lassen Sie es uns hoffen, er hat es verdient.« Jerome lächelte kurz bei dem Gedanken an den möglichen Durchbruch seines Sohns, bevor er sie hinausbegleitete.
____
Reza hatte ihr auf dem Handy die Nachricht hinterlassen, dass er verschlafen hatte, aber auf dem Weg ins Präsidium war. Sie rief ihn an, als sie die Treppe bei Jerome und Liam hinunterging, doch er antwortete nicht, und sie hinterließ ihm ihrerseits eine Nachricht, dass sie etwas frische Luft brauche und sich deshalb gerne den Tatort ansehen wolle, wo sie schon einmal in der Gegend sei. In einer Stunde könnten sie sich im Büro treffen. Unten auf der Straße spürte sie einen Stich in der Brust wegen des Streits mit Michael und beschloss, ihn ebenfalls anzurufen und sich wieder mit ihm zu versöhnen. Er ging nicht ans Telefon, und einen Augenblick war sie ratlos, entschied jedoch, keine Nachricht zu hinterlassen. Diese kurzen Nachrichten waren so leicht misszuverstehen; es war besser, richtig miteinander zu reden. Ihr schwirrte der Kopf, als sie zum Kastell hinüberging. Die Luft war mild und duftete nach Flieder, und in dem Park um die Festung führten mehrere Hundebesitzer ihre Hunde aus. Sie stellte sich vor, wie Kissi zusammen mit ihren Hundefreunden hier herumgelaufen war. Warum war Kissi an dem fraglichen Mittwoch trotz des heftigen Unwetters hinausgegangen? Rebekka blickte schräg über den Wallgraben durch das alte Tor. Das Kastell war eine der am besten erhaltenen Festungsanlagen in Nordeuropa und hatte ein Gefängnis, in dem unter anderem Struense drei Monate eingesessen hatte, während er auf seine Hinrichtung wartete. Rebekka schauderte bei dem Gedanken an die gnadenlosen Bestrafungen der damaligen Zeit und stapfte den Wall hinauf. Die Absperrung war entfernt worden, und man sah nicht mehr, dass dieser schöne Ort vor einigen Tagen den Rahmen für einen brutalen Mord abgegeben hatte. Das Kastell war sternenförmig angelegt und in fünf Bastionen unterteilt. Sie ging zur Kongens Bastion, zu der Stelle, an der Kissi überfallen worden war. Sie ließ ihre Hand über die mannshohe Kanone gleiten, spürte das kühle Eisen unter den Fingern und sah an mehreren Stellen noch immer die weißen Spuren von der Arbeit der Kriminaltechniker. Sie ging in die Hocke und nahm die Pflastersteine in Augenschein, auf denen das alte Geschütz stand; mehrere waren lose, es dürfte ein
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