Blut für Blut: Thriller (German Edition)
gesprungen, von der Dunkelheit verschluckt worden. Er musste mit seiner Trauer allein sein, der Trauer, dass es Kissi nicht mehr gab, seine erste Liebe, die Mutter seiner Kinder, seine beste Freundin, bei der er immer Zuflucht hatte suchen können – in guten wie in schlechten Zeiten. Wie hatte das passieren können? Wer hatte ihr Übles gewollt? Er konnte das nicht begreifen, es musste ein Irrtum sein, es musste sich um Raubmord handeln, um einen Überfall, der fehlgeschlagen war, obwohl die Polizei bestritt, dass alles so zusammenhängen könnte. Zumindest konnte es niemand getan haben, der sie gekannt hatte. Dieser Gedanke war unmöglich. Die Vorstellung, dass es vermutlich ein wütendes Familienmitglied von einer der Frauen war, die in Lundely gewohnt hatten, tauchte erneut in seinem Kopf auf, und Wut loderte in ihm hoch. Warum hatte sie nur nicht auf ihn gehört, er hatte sie so oft gewarnt. Diese verdammten Klienten. Der Abschaum der Gesellschaft, das waren sie, nicht mehr als eine Horde Gesindel, das unablässig für alles Mögliche um Hilfe bat. Jerome schnaubte laut und fuhr zusammen, als er Liams starke Arme um sich spürte und die heisere Stimme dicht neben seinem Ohr hörte: »Komm ins Bett, das ist ein Befehl.« Jerome ließ sich zu dem breiten Doppelbett führen und wie ein Kind ausziehen, bis er ganz nackt war. Liam stieß ihn sanft auf das Bett und begann, ihn mit starken, trockenen Händen zu massieren. Die Haut brannte, und er wand sich unter dem kräftigen Griff.
»Das tut weh, Liam«, flüsterte er.
Liam antwortete nicht, sondern setzte sich rittlings auf ihn, und Jerome hörte das Geräusch einer Tube, die geöffnet wurde, und wenig später breitete sich der Geruch nach Eukalyptus im Schlafzimmer aus. Die Creme lockerte langsam die harten Schultermuskeln, und er sank tiefer in die Matratze, während Schmerz und Wohlbehagen ineinander übergingen. Bilder von Kissi passierten vor seinem inneren Auge. Plötzlich erinnerte er sich an sie, klein und lebhaft in ihrem sonnengelben Kleid und ihren zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren, wie er sie das erste Mal bei ihren Eltern in deren Haus in Taarbæk abgeholt hatte. Er hatte sie zum Tanzen in der Studentenverbindung eingeladen. Er erinnerte sich an ihre grünen, leuchtenden Augen, den schwachen Geruch von Kaugummi aus ihrem Mund und seine heimlichen Erwartungen, den Eisklumpen aus Angst, der im Laufe des Abends, der ein voller Erfolg war, langsam taute. Sie konnten gut miteinander reden, sie hatten die gleiche Art von Humor und lachten so laut, dass der sie umgebende Lärm in ihrem Lachen unterging. An diesem Abend hatten sie ein lebenslanges Band geknüpft, ein Band, das manchmal schwächer gewesen, aber nie zerrissen war. Bis jetzt. Ach, geliebte Kissi. Tränen stiegen ihm in die Augen, und ein Kloß verhaltener Trauer kratzte im Hals. Wie würde sein Leben in Zukunft aussehen, mit den Kindern und Enkelkindern? Jerome spürte, wie Liams Hände seine Pobacken mit sanften, rhythmischen Bewegungen kneteten. Als Liam kurz darauf in ihn eindrang, weinte er lautlos in das seidene Laken.
SONNTAG, 10. JULI 1988
Liebes Tagebuch
Ich schlafe nicht mehr in meinem eigenen Bett.
Wenn Mutter und Vater zu Bett gegangen sind, schleiche ich mich in Charlottes Zimmer, das noch genauso ist, wie sie es verlassen hat. Ich ziehe mir die Decke bis über den Kopf, schnuppere daran, sie riecht schwach nach ihr, und ich gelobe, dass das Bettzeug nie gewaschen wird. Niemals. Auf dem Kissenbezug ist ein verschmierter Mascarafleck, und ich frage mich, ob sie geweint hat und warum.
Ich schlafe zurzeit schlecht, selbst wenn ich in ihrem Bett liege, ich wache oft schreiend auf, ich habe Angst, ich habe Angst, dass er mich auch umbringt.
Ich wühle in ihren Sachen herum, sie würde wütend werden, wenn sie mich sähe, ich lese ihre Liebesbriefe – sie hat viele. Ich kaue Kaugummi und klebe ihn unter das Bett, ich blättere in ihren Büchern, gehe ihre Aufsätze durch – sie hat nicht besonders gut geschrieben –, ich ziehe ihre Höschen an. Sie sind schöner als meine.
Søs
MONTAG, 23. JUNI
Rebekka lief die Treppe zu ihrem Büro hinauf. Ihr Kopf dröhnte, sie hatte gestern Abend zu viel Rotwein getrunken, und obwohl sie den Morgen mit einer Runde Joggen begonnen hatte, ging es ihr trotz der frischen Luft nicht besser. Vielleicht lag es an den Zigaretten? Sie stieß die Tür zu ihrem und Rezas Büro auf, doch es war erst kurz vor acht Uhr, und Reza war noch nicht da.
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