Blut für Blut: Thriller (German Edition)
hatte und der den Puls innerhalb weniger Sekunden verlangsamen sollte. Ihre Tante hatte ihr noch viele andere gute Ratschläge gegeben, manche brauchbarer als die anderen. Sie schickte ihr einen liebevollen Gedanken und hoffte, dass es ihr möglich sein würde, an ihrer Beerdigung teilzunehmen. Wenn das Team mitten in einer Ermittlung war, wurde auf das Privatleben keine Rücksicht genommen, und in den ersten Wochen nach einem Mord arbeiteten alle meistens rund um die Uhr. Sie checkte die Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter. Dorte hatte eine Nachricht hinterlassen; sie hoffte, dass sie sich bald sehen konnten. Sie musste unbedingt mit ihr reden. Rebekka fühlte ansatzweise ein schlechtes Gewissen, als sie die Stimme der Freundin hörte. Dorte war ihre engste Freundin. Sie kannten sich, seit sie beide mit zwanzig auf der Polizeischule angefangen hatten. Dorte hatte nach einem Jahr aufgehört, als ihr klar geworden war, dass das nichts für sie war, und hatte stattdessen eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht und arbeitete jetzt im Traumazentrum des Reichskrankenhauses. Rebekka mochte sie sehr, sie sprachen oft miteinander und sahen sich zeitweise auch oft. Dorte war bis auf Michael die Einzige, die von Rebekkas trauriger Kindheit wusste. Sie biss sich auf die Lippe – hatte Dorte auf dem Anrufbeantworter traurig geklungen? Sie beschloss, sie anzurufen, sobald sie ein paar freie Minuten hatte.
»Rebekka. Rebekka.« Sie hörte Reza draußen auf dem Gang rufen. Sie hatten beschlossen, die Befragung von Anne Munk auf später zu verschieben und sich stattdessen auf das Gespräch mit dem jungen Kollegen von Kissi, Kasper Rosenstand, zu konzentrieren, der noch immer krankgeschrieben war.
____
Sejr sah sich zufrieden in dem kleinen Raum um. Er war nicht wiederzuerkennen. Er hatte zum ersten Mal seit vielen Jahren sauber gemacht, richtig sauber. Er hatte die Stapel zusammengetragen, die verschiedenen Unterlagen sortiert und alles Unbrauchbare in schwarzen Müllsäcken entsorgt. Es roch kräftig nach Reinigungsmitteln, und er lächelte. Es fühlte sich gut an, sich in seinem Alter noch selbst überraschen zu können. Es fühlte sich richtiggehend wie eine Befreiung an, sich von all den Zeitschriften, Gehaltsabrechnungen und allem, was er in Schubladen und Schränken aufgehoben hatte, zu trennen. Er warf einen Blick ins Wohnzimmer und sah das überfüllte Regal, das mit Büchern, Notizen, Spielen und allem möglichen anderen Mist vollgestopft war. Das musste auch ausgemistet werden, doch er beschloss, dass es mit dem Arbeitszimmer genug war. Jetzt war er bereit und freute sich darauf, alle Notizen in Ordnern zu sammeln und sich einen Überblick über die verschiedenen Ermittlungen zu verschaffen – im Mordfall Charlotte B. Hansen 1988 und im aktuellen Mord an Kissi Schack.
Sejr ging in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee. Er fand langsam Geschmack an Pulverkaffee und dachte, dass er sich eine Thermoskanne anschaffen sollte, damit er nicht die ganze Zeit zwischen Küche und Arbeitszimmer hin und her rennen musste. Er lief ins Wohnzimmer zurück und überlegte, ob er sich nicht doch das große Regal vornehmen sollte. Er zog ein paar Mappen heraus und legte sie auf einen Stapel auf dem Boden. Staub fiel in großen, grauen Flocken von den Mappen wie Wattekugeln. Er nahm ein paar Bücher heraus, und einige fielen mit einem lauten Knall auf den Boden. Ein vergilbter Briefumschlag rutschte zwischen ihnen heraus. Sejr fischte ihn mit zitternden Händen vom Boden auf. Was war das? Ein alter Liebesbrief oder … In dem Umschlag lag ein Brief, geschrieben in einer Kinderschrift. Er kniff die Augen zusammen und las: Lieber Papa, ich hoffe, es geht Dir gut. Mir geht es gut, es geht gut in der Schule. Ich möchte Dich gerne bald besuchen. Liebe Grüße, Iben. Ein paar Blumen und Sommervögel waren mit Kugelschreiber auf das karierte Papier gezeichnet, und Sejr starrte den Brief einen Augenblick wie paralysiert an. Iben. Seine Iben. Wie alt mochte der Brief wohl sein? Er hatte kein Datum, aber die Schrift gehörte deutlich einem kleineren Kind. Sie konnte höchstens acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als sie das geschrieben hatte. Er rechnete an den Fingern nach, Iben musste jetzt um die sechsundvierzig sein. Er hatte den Brief nie beantwortet, ihn einfach zwischen ein paar Bücher gesteckt, um ihn dann zu vergessen. Seitdem hatte sie sich nicht mehr bei ihm gemeldet, und einen Moment quälte ihn das schlechte
Weitere Kostenlose Bücher