Blut für Blut: Thriller (German Edition)
war Andrew vor einem schönen älteren Haus im viktorianischen Stil stehen geblieben. »Da sind wir. Vielleicht sollten wir sehen, dass du ein warmes Bad und ein paar trockene Sachen bekommst«, hatte er gebrummt, und Liam hatte schüchtern genickt und war ihm in die Wärme gefolgt. Als er kurz darauf durch das schön eingerichtete Haus geführt wurde, hatte er in seinem Innersten sofort gewusst, dass er hier bleiben wollte. Und er war geblieben. Er hatte den Kontakt zu seiner Familie und seinen wenigen Freunden sofort abgebrochen – und war zu Andrews Projekt geworden. Doch dann starb Andrew plötzlich an Herzversagen, und Liam musste feststellen, dass sie zwar knapp drei Jahre das Bett geteilt hatten, Andrew aber trotzdem alles, was er besaß, einer entfernten Nichte vermacht hatte. Die Bitterkeit hatte ihn fast aufgefressen, und es hatte Jahre gedauert, sie zu überwinden, Jahre mit Drogen, zu viel Alkohol, fremden Körpern, die gaben und nahmen, schlechten Jobs, die niemand sonst haben wollte – Straßenfeger, Tellerwäscher, ungelernter Kellner –, und einer Odyssee durch Europa. Schließlich war er in Kopenhagen gelandet, da er vom liberalen Dänemark gelesen hatte, und war in der Stadt geblieben. Er hatte einen Job als Kellner im Tivoli gefunden, sich ein billiges Zimmer bei einer alleinstehenden älteren Dame in der Vester Voldgade gemietet und seine wenigen freien Abende im Pan Club verbracht, während er nach Freizügigkeit, Nähe und vielleicht sogar nach Liebe gesucht hatte. Nach zehn langen Monaten in Kopenhagen hatte er fast aufgegeben.
Doch dann war er Jerome an einem späten Abend auf dem Rådhusplads begegnet. Jerome hatte am Kiosk gestanden, um Gauloises zu kaufen. Sie waren ins Gespräch gekommen, hatten sich, umringt von gurrenden Tauben, auf eine Bank auf dem Rådhusplads gesetzt. Er war mit Jerome nach Hause gegangen und geblieben. Das war jetzt zwanzig Jahre her, und das Leben war gut gewesen. Die Frage war jetzt, was Kissis Tod mit sich bringen würde. Einen Anfang oder das Ende?
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Brodersen trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Er hatte nach der letzten Pressekonferenz des Tages Rebekka, Reza und Simonsen zu einem kurzen Gespräch zu sich gerufen. Der Chef der Mordkommission hatte den ganzen Tag damit verbracht, die geifernde Presse nach dem schockierenden Fund eines weiteren Vergewaltigungsopfers am Morgen auf Abstand zu halten. Polizei, Presse und Bürger waren in Alarmbereitschaft. Die junge Frau, Trine Rasmussen, war bewusstlos in dem verlassenen Fußgängertunnel zwischen dem Park Østre Anlæg und dem Botanischen Garten gefunden worden. Den Ärzten zufolge hatte Trine Rasmussen einen Schädelbruch, Würgemale am Hals, zahlreiche Zähne waren ausgeschlagen, und sie hatte in höchster Lebensgefahr geschwebt. Niemand zweifelte daran, dass es sich um denselben Serientäter handelte, hinter dem sie die ganze Zeit her waren, obwohl die Analyse der am Tatort vorgefundenen Spuren noch ausstand.
Rebekka berichtete kurz von der Entwicklung im Mordfall Kissi Schack, und Brodersen stöhnte immer lauter, je weiter sie von den ergebnislosen Ermittlungen berichtete. Die Schlussfolgerung war klar: Die Ermittlung stagnierte, und die Direktion hatte gerade mitgeteilt, dass künftig nicht mehr so viele Ressourcen für die Ermittlungen im Mord an Kissi Schack zur Verfügung gestellt werden konnten. Neue Fälle standen an, und aufgrund der letzten Vergewaltigung musste den Ermittlungen im Fall der Serienvergewaltigungen eine höhere Priorität eingeräumt werden. Außerdem florierte die Bandenkriminalität in Nørrebro, neue Fälle von schwerer Körperverletzung und Sachbeschädigung kamen herein, und am heutigen Vormittag hatte man in einer Wohnung in Vesterbro die Leiche einer Grönländerin gefunden, die zu Tode geprügelt worden war. Rebekka kaute an einem Nagel, während Brodersen sprach. Es war gegen ihre Berufsehre, dass sie nicht mehr erreicht hatten. Sie gingen ein weiteres Mal die wahrscheinlichsten Verdächtigen durch: Kasper Rosenstand und Haleema Hamad. Brodersen lauschte aufmerksam ihrem Bericht von Kasper Rosenstands Joggingrunde im Regen zur Tatzeit und Haleema Hamads aufwendigem Reihenhaus.
»Wir hatten heute ein ernstes Gespräch mit Kasper Rosenstand, und wir bleiben natürlich an ihm dran. Er ist ein möglicher Verdächtiger, obwohl mir persönlich sein Motiv nicht ganz klar ist. Ich bin jedoch der Meinung, dass wir uns Haleema Hamad genauer ansehen
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