Blut Licht
gehen“, erklang eine tiefe, ruhige Stimme hinter mir. „Gib ihm die Zeit zu verstehen.“
Umgehend erstarben sämtliche Laute um mich herum und es wirkte, als bliebe die Zeit stehen. Ein Zustand, den ich inzwischen recht gut kannte. Losgelöst von Raum und Zeit, wie in einer Blase. Das konnte doch nur...
Langsam drehte ich mich um und erblickte Michael, der neben einer Statue stand und mich ruhig musterte. Sogleich ließ der Druck an meinem Arm nach und ich beobachtete erstaunt, wie der Engel einen meterlangen Tentakel über den Boden auf sich zu zog. Damit hatte er mich am Arm gepackt und verhindert, dass ich Darian folgte? Warum?
„Aber...“ Zögernd trat ich näher und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. „Sag mal, hat mein Mann etwa geweint?“
„Manchmal überwältigen ihn Gefühle, die er ohne all das, was geschehen ist, niemals hätte erfahren dürfen. Vergiss nicht, tief im Kern seines Herzen ist er der, der er wahrhaftig ist.“
Dass Darian derzeit mit seinen Gefühlen zu kämpfen hatte, war mir durchaus aufgefallen. Allerdings verstand ich Michaels nachfolgende Bemerkung nicht. Worauf wollte er hinaus?
„Erkläre es mir.“
Ich sah ihn sanft lächeln, während er sich von der Wand abstieß und zu mir kam. „Du weißt es längst, Kind. Hier.“ Er tippte mir erst gegen die Stirn und anschließend gegen die Herzregion. „Und hier.“
Kaum dass er mich berührt hatte, schossen Lichtblitze an meinem inneren Auge vorbei. Sie bildeten vereinzelte Strudel, liefen zusammen und ergaben allmählich ein Bild. Erst wabernd, leicht flirrend, dann stetig klarer. In diesem Moment fühlte ich mich irgendwie erhoben, so als würde ich schweben und der Boden unter meinen Füßen schien zu entschwinden. Schwerelos. Zentnerschwere Lasten wirkten wie verschwunden und ich fühlte mich unendlich leicht. Irgendwie erleichtert.
Um mich herum war es hell. Weitaus heller, als es im Petersdom jemals wirklich sein konnte. Mir war, als stände ich auf einer weiten Ebene, die aus nichts weiter als purem Licht bestand. Licht, und bei genauerer Betrachtung, vermischt mit einer Art feinstem Nebel, der meine Füße umwob. Obwohl ich instinktiv kühle Feuchtigkeit erwartete, war es angenehm temperiert, trocken und auf unerklärliche Weise sonnendurchflutet. Ich bewegte meine Füße und sah den Nebel in trägen Wellen davontanzen. Es entlockte mir ein kindliches Lachen. Der Impuls, mit großen Sprüngen spielerisch hindurch hüpfen zu wollen, wurde beinahe übermächtig. Dennoch beschränkte ich mich auf einen einzigen Sprung, ließ den Nebel aufwirbeln und blickte zu meinen Füßen hinab.
Das war definitiv nicht der Fußboden der Basilika. Kein Marmor, keine Mosaike, eher sah es aus wie poliertes Rauchglas. Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere und begann leicht zu wippen. Wie weiches, poliertes Rauchglas.
Wo war ich? Ruhig sah ich auf und versuchte, die Nebelebene zu überblicken. Irgendwie aussichtslos, wenn sie sich meinen Blicken anpasste, je weiter ich über sich hinweg sah. Vor Konzentration begannen meine Augen zu tränen und für einen Moment verschwamm alles vor mir.
Nein, soviel war klar, es war nicht die Nebelsuppe, in der ich schon mehrmals gelandet war. Es musste diesmal etwas anderes, weitaus mächtigeres sein. Möglicherweise eine Ebene, die ich unter normalen Umständen niemals von allein erreicht hätte. Es musste Michaels Einladung gewesen sein, die mir den Zutritt hierher ermöglicht hatte. Was mich zu der Frage brachte, wo mein beschwingter Gastgeber abgeblieben war.
Seine Antwort bestand in einem leisen Lachen, das neben mir erklang. Oder war es vor mir? Neben mir? Unter oder gar über mir? Ich verrenkte mir fast den Hals. Woher denn nun?
„Das große Ganze ist ohne Richtung, Faye“, hallte es durch meine Gedanken. „Es ist zentriert und allgegenwärtig, weder nah noch fern. Es ist in dir und um dich herum. Du bist außerhalb und doch direkt darin. Wie ein Tropfen im Meer, der sowohl ein einzelner Tropfen als auch das gesamte Meer ist.“ „Danke für diese exakt formulierte Auskunft, Michael. Sie hat mir überaus geholfen“, erwiderte ich mit ironischer Freundlichkeit. „Damit hätte sich dann meine Frage, wo ich mich derweil genau befinde, wohl erledigt. Aber das verrät mir noch nicht, warum du mich hergebracht hast.“
„Da dein menschlicher Verstand linear und dreidimensional funktioniert, richte deine Aufmerksamkeit bitte geradeaus und erblicke sie,
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