Blut Licht
seine Hand an meiner, ertastete etwas Hölzernes und schloss meine Finger darum. Weder wagte ich zu erfragen, wie er den Pflock so schnell aus dem Gepäck bekommen hatte noch traute ich mich, ihm dafür zu danken. Wir durften uns nicht verraten.
Nein, wir verrieten uns auch nicht, denn das erledigte mit Bravour mein dämliches Trampeltier. Nervös schnaubend stob es für ein Kamel blitzartig in die Höhe und lief dann davon. Wir ließen es laufen. Jetzt aber erlangten wir endlich Alistairs zunächst erstaunte Aufmerksamkeit, die sich schlagartig in pure Konzentration wandelte, nachdem er mir in das Gesicht gesehen hatte.
Derweil entschieden sich die beiden anderen Kamele, ihrem flüchtenden Kollegen folgen zu wollen. Sie standen eilig auf und trabten ihm nach. Kahina versuchte vergeblich, das Reittier zu stoppen, und wurde einen guten Meter mitgezogen, ehe mein Bruder sie an der Taille umfasste und zurückhielt. Sie fuhr erbost herum und war sichtlich bereit, ihn ordentlich zusammenzustauchen, doch ein kurzer Blick in seine warnend funkelnden Augen reichte aus, die mögliche Gefahr zu erfassen. Ihre Augen durchsuchten blitzschnell die Umgebung, während ihre Hand einen langen, orientalischen Dolch mit einem sehr spitz zulaufenden Heft aus schwarzem Holz unter ihrem Gewand hervorzauberte.
Ich staunte nicht schlecht, weil ich diese doppelt tödliche Waffe nie zuvor an ihr gesehen hatte. Zumal ihre Hand diesen Dolch in einer Manier umfasste, die deutlich machte, dass sie sehr wohl damit umzugehen wusste.
Spätestens jetzt wusste der ungebetene Besucher von seiner Entdeckung und wir rechneten sekündlich mit einem Angriff. Doch nichts geschah. Eine Minute verstrich. Dann eine weitere. Bislang kam nichts aus den Schatten auf uns zugeschossen.
Der lichte Streifen am Horizont wurde breiter. In gut zehn Minuten würden die ersten Sonnenstrahlen uns erreichen. Worauf wartete die verhüllte Gestalt? Dass wir hier Wurzeln schlugen?
Jäh durchzuckte mich eine Vorahnung. So abwegig der Gedanke auch wirkte, er war es nicht. Doch diese Hinhaltetaktik wollte ich nicht weiter unterstützen. Ich ging aus meiner leicht geduckten Abwehrhaltung in eine gestreckte, senkte die Hand mit dem Pflock ein wenig und sprach klar vernehmlich in die Schatten hinein: „Na gut, was immer das hier soll, tritt vor und lass hören, was du zu sagen hast.“
Abermals fühlte ich einen eisigen Hauch meine Haut streifen, dann bemerkte ich in gut zehn Metern Entfernung eine schwache Bewegung. Die Schatten wirkten auf einmal ein wenig dunkler, irgendwie geballt, als zöge sich dort etwas zusammen. Etwas, das nur langsam heranwuchs, verdichtete und nach und nach eine Gestalt annahm. Eine relativ kleine Gestalt. Gedrungen? Ich konzentrierte mich stärker. Nein, nicht gedrungen oder gar gebeugt. Die Gestalt blieb klein und zudem recht schlank, denn ... Es war ein Kind. Genauer gesagt: ein junges Mädchen, das bis an Rand des Platzes kam. Dort blieb es stehen, hob seine rechte Hand und wies wortlos auf mich.
Himmel hilf! Was sollte das? Es war gespenstig anzusehen und ich traute meinen Augen kaum. Die Gestalt war vielleicht neun, zehn Jahre alt. Rothaarig, mit seitlich geflochtenen Zöpfen und heller Haut, dazu die großen, grünen Augen. Ein perfektes Spiegelbild meiner eigenen Kindheit. Sogar diese hellblaue Bluse mit winzigen Knöpfen und den Rüschenärmeln, der dunkelblaue, knielange Rock, die weißen Söckchen und die schwarzen Lackschuhe mit der großen Schleife waren identisch.
Ich wurde sauer. Wenn sie gedacht hatte, mich mit dieser Erscheinung besänftigen zu können, hatte sie sich getäuscht. Ich hatte diese verdammten sonntäglichen Kirchgangklamotten gehasst wie nichts Anderes.
„Willst du uns verarschen?, entfuhr es meinem Bruder zornig, denn auch er hatte ihre Absicht durchschaut. Dabei machte er einige Schritte auf die Gestalt zu, bis Kahina ihn am Arm zurückhielt. „Warte. Töte es nicht, khar. Es ist nur ein Bote, denn sonst hätte es uns bereits angegriffen.“
Alistair blieb stehen und fixierte den Vampir wutschnaubend: „Hat sie recht? Bist du ein Bote?“
Die Gestalt ignorierte ihn. Ihr Augenmerk war weiterhin auf mich konzentriert und ich spürte einen unangenehmen Sog, als wollte sie mich zwingen, zu ihr zu kommen. So aber hatten wir nicht gewettet. Thalion hatte mich gut ausgebildet und die endgültige Lektion hatte ich in New York erhalten. Selbst Kindervampire waren tödlich. Und solche, die das Spiegelbild der eigenen
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