Blut muss fließen
mehr. Daraus resultiert die Tendenz, dass Redaktionen weniger neue Themen setzen, sondern vorzugsweise neue Aspekte zu den aktuellen Topthemen suchen – mangels Vor-Ort-Recherchen häufig vom Schreibtisch aus. Mein Eindruck ist, dass viele Storys nicht mehr aus der unmittelbaren Beobachtung der Realität heraus entwickelt werden, sondern am redaktionellen Reißbrett. Verstärkt wird diese Entwicklung durch Sendungsformate mit starrer Erzählstruktur. Das Thema bestimmt immer seltener die journalistische Darstellungsform, sondern das vorgegebene Darstellungsformat die Themen, die aufgegriffen werden (können).
Die Recherche vieler Redaktionen beschränkt sich zunehmend auf den Check von Fakten, die unter anderem Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder Greenpeace kostenlos liefern, weil sie darauf hoffen, »ihr« Thema einem großen Publikum bekannt machen zu können. Immer weniger Redakteure bewältigen selbst die zeitlich und finanziell aufwendigen Grundlagenrecherchen.
Fazit: Wäre es nach den Entscheidungskriterien der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten gegangen, hätte es meine Undercover- Recherche in der Neonazi-Szene nie gegeben – und auch nicht den Dokumentarfilm »Blut muss fließen« – Undercover unter Nazis, in dem der Filmemacher Peter Ohlendorf anhand meiner Arbeit über die neonazistische Jugendkultur in Europa berichtet. Den Film gibt es nur, weil der Autor und Produzent bereit war, einen Schuldenberg in Höhe von rund 200 000 Euro aufzuhäufen, und der Cutter Stefan Ganter rund 1000 Schnittstunden investiert hat, ohne eine verlässliche Aussicht auf deren Honorierung zu haben. Auch andere Beteiligte sind in Vorleistung gegangen, beispielsweise der Komponist, der sich um die Filmmusik kümmerte. Peter Ohlendorf: »Gegen jede ökonomische Vernunft, aber im festen Glauben an die Bedeutung dieser Produktion haben sich auch die Kollegen nicht beirren lassen.«
Aufgrund der finanziellen Rahmenbedingungen zog sich die Arbeit an diesem Film über knapp fünf Jahre hin. In diesem Zeitraum sind Rundfunkgebühren in Höhe von mehr als 35 Milliarden | 198 | Euro bezahlt worden – kein Euro davon floss in unseren Dokumentarfilm. Talkshows gibt es in ARD und ZDF an fast jedem Abend zu sehen, politische Hintergrundformate vergleichsweise selten, meist nur noch 30- bis 45-minütig und in der Regel nicht vor 23.30 Uhr.
Keine Fernsehredaktion der öffentlich-rechtlichen Sender hatte Interesse am 90-Minüter »Blut muss fließen« – aber das Filmfestival Berlinale, in Person von Wieland Speck, dem Programmleiter der Sektion »Panorama«. Der Film bekam dadurch mediale Aufmerksamkeit, aber bis zum Redaktionsschluss dieses Buches, im August 2012, immer noch keinen Sendeplatz. Einmal mehr zeigten über Monate hinweg nur einzelne Kollegen aus in Frage kommenden Redaktionen Interesse, während die Zuschauer nach der Berlinale sofort und zahlreich Interesse an Filmvorführungen anmeldeten. Peter Ohlendorf machte sich auf den Weg in die bundesdeutsche Zivilgesellschaft, um mit dem Film und den anschließenden Frage- und Diskussionsrunden für die Neonazi-Problematik zu sensibilisieren. Mehrere tausend Leute haben den Film auf diese Weise gesehen. Bei Initiativen, in der Bevölkerung und zunehmend auch bei Politikern wächst das Interesse stetig. Inhaltlich bewegt sich dadurch etwas, finanziell zu wenig, um eine wirkliche Refinanzierungsperspektive für das Projekt zu entwickeln. Ohlendorf: »Wir sind nun gezwungen, für Vorführungen des Films 1000 Euro netto pro Tag zu verlangen. Die Nachfrage nach solchen Veranstaltungen ist enorm, und umso ärgerlicher ist es, dass wir all denen absagen müssen, die diesen Betrag nicht aufbringen können – meist sind das kleine Gruppen, die sich vor Ort gegen Rechtsextremismus engagieren. Wir finden das unerträglich, doch bei uns muss die ökonomische Unvernunft jetzt definitiv ein Ende haben: Ich stehe auch und gerade in der Verantwortung gegenüber den Kollegen, die bislang ihr gesamtes Honorar rückgestellt haben.«
In der Hoffnung, dass vergleichbare Recherche- und Dokumentarfilmvorhaben künftig aus der Bürgergesellschaft monetär unterstützt werden, hat Peter Ohlendorf ein Independent-Label gegründet: »Film-Faktum ist der Versuch, Produktionen abseits des weit verbreiteten Mainstream-Denkens in den etablierten Film- und Fernsehstrukturen zu ermöglichen.« | 199 |
Auch Filmförderungsgesellschaften
Weitere Kostenlose Bücher