Blut Schatten
erleben durfte? Nein, kannst du nicht haben. Und jetzt verlangst du von mir, dass ich abziehe? Niemals!« Inzwischen schrie ich ihn fast an. Ich hatte die Hände verschränkt, um sie nicht nach ihm auszustrecken, um ihn zu schütteln. »Ich soll dich aufgeben, wie ich Julie aufgeben musste? Einfach so?«
Plötzlich packte er mich, seine Finger bohrten sich schmerzhaft in meine Schultern, sein Gesicht kam meinem ganz nahe. Wutverzerrt, bedrohlich. »Was geschah mit Julie, Faye? Und versuch nicht, mir das Märchen mit dem Unfall aufzutischen. Ich habe den Bericht der Times im Internet gelesen und glaube davon kein Wort. Wie starb sie tatsächlich?«
Ich keuchte. Er tat mir weh. Und doch verdrängte ich es, blickte ihn an, und die tief in mir vergrabenen Erinnerungen schwappten über mich hinweg, so dass meine Stimme nur noch ein Hauch war: »Sie wurde verwandelt. Es war zu spät. Viel zu spät. Wir konnten die Verwandlung nicht mehr aufhalten, ihr nicht helfen.«
Meine Beine knickten ein, ich sackte zusammen, lehnte an seiner Brust und merkte erst jetzt, dass mir die Tränen über die Wangen rannen. Wir fielen zusammen auf die Knie, er hielt mich fest umfangen, und wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an ihn, verbarg mein Gesicht an seinem Hals. »Wir konnten überhaupt nichts mehr tun. Ich war zu dumm, es vorher zu erkennen, Alistair. Es ist meine Schuld, dass sie sterben musste.«
»Nein«, meinte er brüchig, strich mir über die Wange. «Nein, es ist nicht deine Schuld. Rede dir das nicht ein. Du hast dagegen keine Chance. Die gibt es nie.«
»Woher willst du das wissen?« Ich stieß ihn voll Verzweiflung von mir. »Wie kannst du das sagen? Du warst nicht da. Du hast nicht mit ansehen müssen, wie dir das Leben von jemandem, den du liebst, durch die Finger rinnt. Wie er dir entgleitet und du unfähig bist, daran etwas zu ändern. Wie du seinen Tod nicht verhindern kannst.«
»Doch, ich weiß es. Ich weiß genau, wie es ist, jemanden zu verlieren. Ich kenne die ganze Hilflosigkeit, die Verzweiflung und die Trauer. Und ich weiß, wie man sich fühlt, wenn die Hoffnung vergebens ist.« Er sprach leise, sah mich dabei nicht an. Sein Blick war abgewandt, ins Nirgendwo gerichtet. »Ich war gerade vier Jahre alt, Faye. Sie kamen spät am Abend. Ich war schon im Bett, hatte längst geschlafen. Irgendwas weckte mich, ich musste mal und bin die Treppe runter. Da sah ich sie. Unten im Flur, ein Mann und eine Frau. Der Mann hat meine Mutter festgehalten, die Frau machte sich an ihr zu schaffen. Mutter wehrte sich, weinte und bettelte um ihr Leben, bis sie mich sah. Dann hörte sie damit auf. Ich sehe den Blick ihrer Augen noch vor mir, wie sie mich anflehte, mich zu verstecken. Bis zum Morgen lag ich verängstigt unter meinem Bett. Großmutter fand mich, tröstete mich und nahm mich mit. Es verfolgt mich bis heute.«
Während seiner Worte war ich still geworden, brauchte einen Augenblick, das Geständnis komplett zu begreifen. Alistair hatte den Tod seiner Mutter miterlebt, meine Großmutter Brianna hatte es gewusst und geschwiegen. Dad hatte erwähnt, dass seine erste Frau auf die gleiche Weise ums Leben gekommen war wie meine Schwester. Aber niemand von uns hatte gewusst, dass Alistair es mitbekommen hatte. Oh Gott, er war noch ein Kind gewesen.
Mitfühlend streckte ich eine Hand aus, berührte sachte sein Gesicht, strich ihm einen der Zöpfe beiseite. Trotz meiner eigenen Traurigkeit wollte ich ihn trösten, weil ich ihn verstand und er mich. Alistair sah mich an, unendliche Trauer stand in seinen grünen Augen. Dann legte er seine Hand über meine und hielt sie fest. Und in diesem Moment wurde uns eins klar: Wir hatten beide auf die gleiche Weise einen sehr wichtigen Menschen verloren, und das schweißte uns enger zusammen, als es die Familienbande hätten tun können. Er konnte mich nicht mehr fortschicken. Und er wusste es.
»Ich habe keine Ahnung, wie ich damit klarkommen soll«, gestand er leise, ich nickte. »Wie soll ich deinen ...«, er stockte, suchte nach den richtigen Worten, blickte dabei auf den Hudson hinaus, »ihn an deiner Seite akzeptieren, wenn ich weiß, was er ist?«
»Darian ist nicht wie andere, Alistair. Würdest du seine Geschichte kennen, wüsstest du es. Denn wäre er wie sie, hätte ich mich niemals in ihn verliebt. Ich hätte genau so reagiert wie du und alles daran gesetzt, ihn zu vernichten. Doch nicht alle sind böse und berechnend.«
»Alles hat seinen Preis, Faye. Man muss nur
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