Blut - Skeleton Crew
es würde weiterfahren. Dann leuchteten die Schlusslichter auf und Nona packte mich an der Hand. »Komm, der nimmt uns mit!« Sie grinste mich mit kindlicher Freude an.
Der Typ lehnte sich enthusiastisch über den Beifahrersitz, um ihr die Tür zu öffnen. Als die Innenbeleuchtung anging, konnte ich ihn sehen – ein ziemlich großer Mann in einem teuren Kamelhaarmantel, graue Haare unter dem Hutrand, markante Gesichtszüge, die vom jahrelangen guten Essen aufgeschwemmt waren. Ein Geschäftsmann oder Handelsvertreter. Allein. Als er mich sah, zuckte er zurück, aber es war schon eine oder zwei Sekunden zu spät, den Gang einzulegen und die Flatter zu machen. Außerdem war es so leichter für ihn. Später konnte er sich einreden, er hätte uns beide gesehen, er wäre ein wirklich großmütiger Mann, der einem jungen Pärchen weiterhelfen wollte.
»Kalte Nacht«, sagte er, während Nona neben ihm und ich neben ihr Platz nahm.
»Das kann man wohl sagen«, sagte Nona honigsüß. »Danke!«
»Ja«, sagte ich. »Danke.«
»Nicht der Rede wert.« Und wir brausten los und ließen Sirenen, zusammengeschlagene Lastwagenfahrer und »Joes Gutes Essen« hinter uns zurück.
Ich war um halb acht von der Autobahn gekickt worden. Jetzt war es erst halb neun. Es ist erstaunlich, wie viel man in so kurzer Zeit tun kann, oder wie viel einem angetan werden kann.
Wir näherten uns den gelben Blinklichtern der Mautstation von Augusta.
»Wohin wollt ihr?«, erkundigte sich der Fahrer.
Das war eine Herausforderung. Ich hatte gehofft, bis Kittery zu kommen und bei einem Bekannten reinzuplatzen, der dort Lehrer war. Es schien mir als Antwort so gut zu sein wie jede andere, und ich wollte gerade den Mund aufmachen und sie geben, als Nona sagte:
»Wir wollen nach Castle Rock. Das ist eine kleine Stadt südwestlich von Lewiston-Auburn.«
Castle Rock. Das gab mir ein seltsames Gefühl. Früher hatte ich mich in Castle Rock gut ausgekannt. Aber das war bevor Ace Merrill mich versaut hat.
Der Typ hielt an, zog eine Mautkarte, und schon ging’s weiter.
»Ich fahre nur bis Gardiner«, log er aalglatt. »Die nächste Ausfahrt. Aber immerhin ein Anfang für euch.«
»So ist es«, sagte Nona so honigsüß wie zuvor. »Es war nett von Ihnen, in so einer kalten Nacht anzuhalten.« Und während sie das sagte, spürte ich auf jener emotionalen Wellenlänge ihren heimlichen Zorn, nackt und voller Gift. Er machte mir Angst, wie ein Ticken in einem Päckchen mir Angst machen würde.
»Mein Name ist Blanchette«, sagte er. »Norman Blanchette.« Er hielt die Hand in unsere Richtung, damit wir sie schüttelten.
»Cheryl Craig«, sagte Nona und drückte sie graziös.
Ich verstand ihren Wink und nannte ihm ebenfalls einen falschen Namen. »Sehr erfreut«, murmelte ich.
Seine Hand war weich und schlaff. Sie fühlte sich an wie eine Wärmflasche in Form einer Hand. Der Gedanke machte mich krank. Es machte mich krank, dass wir gezwungen gewesen waren, diesen gönnerhaften Mann um eine Fahrt zu bitten, der geglaubt hatte, er könnte ein hübsches, ganz allein trampendes Mädchen aufreißen, das vielleicht nichts dagegen haben würde, für das Geld für eine Busfahrkarte eine Stunde in einem Motelzimmer zu verbringen. Es machte mich krank zu wissen, dass dieser Mann, der mir gerade seine schlaffe, heiße Hand gereicht hatte, an mir vorbeigebraust wäre, ohne mich auch nur eines zweiten Blickes zu würdigen, wenn ich allein gewesen wäre. Es machte mich krank zu wissen, dass er uns an der Ausfahrt Gardiner absetzen, wenden, auf die Autobahn zurückbrausen, an uns vorbei auf der Südrampe uns keines Blickes würdigen und sich beglückwünschen würde, dass er eine ärgerliche Situation so elegant gelöst hatte. Alles an ihm machte mich krank. Die schwabbeligen Schweinebacken, die zurückgekämmten Schmalzlocken, der Geruch seines Eau de Cologne.
Und welches Recht hatte er? Welches Recht?
Die Übelkeit nahm zu, die Blumen des Zorns erblühten in mir. Die Scheinwerfer seiner protzigen Impala-Limousine durchschnitten mit Leichtigkeit die Nacht, und meine Wut hätte am liebsten alles zerstört, wofür er stand – die Art von Musik, die er hören würde, wenn er sich mit der Abendzeitung in den Wärmflaschenhänden bequem in seinem Sessel zurücklehnte, das Shampoo, das seine Frau für ihr Haar benutzte, die Unterwäsche, die sie trug und die ich mir genau vorstellen konnte, seine Kinder, die immer ins Kino oder in die Schule oder ins Ferienlager
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