Blut - Skeleton Crew
Wangen rot anlaufen ließ. Dann sah er mich mit glänzenden Augen an.
»Kommt näher, Quent«, sagte er.
»Was, Onkel Otto?«, fragte ich. Ich glaubte, er hätte einen seiner verwirrenden Sprünge von einem Thema zum anderen gemacht. Vielleicht meinte er, dass Weihnachten näher rückte, die Jahrtausendwende oder die Wiederkunft Christi.
»Dieser Scheißlastwagen«, sagte er und sah mir gelassen und verschwörerisch in die Augen, was mir nicht besonders gefiel. »Kommt jedes Jahr näher.«
»Tatsächlich?«, sagte ich vorsichtig und dachte mir, dass das eine neue und besonders unangenehme Wahnvorstellung sei. Ich warf einen Blick hinaus auf den Cresswell, der inmitten von Heu, mit den White Mountains als Hintergrund, auf der anderen Straßenseite stand … und eine verrückte Minute lang schien er tatsächlich näher zu sein. Dann blinzelte ich, und die Illusion war verschwunden. Der Laster stand natürlich da, wo er immer gewesen war.
»Oh, jawoll«, sagte er. »Kommt jedes Jahr ein bisschen näher.«
»Herrje, vielleicht brauchst du eine Brille. Ich kann überhaupt keinen Unterschied sehen, Onkel Otto.«
»Natürlich nicht!«, schnauzte er mich an. »Kannst auch nicht sehen, wie sich der Stundenzeiger auf deiner Armbanduhr bewegt, oder? Das verdammte Ding bewegt sich so langsam, dass man nichts sieht, außer man lässt es die ganze Zeit nicht aus den Augen. So wie ich den Laster dort im Auge behalte.« Er zwinkerte mir zu, und ich erschauerte.
»Warum sollte er sich bewegen?«, fragte ich.
»Er ist hinter mir her, darum«, sagte er. »Denkt die ganze Zeit an mich und an nichts anderes, dieser Lastwagen. Eines Tages wird er hier hereinbrechen, und das ist das Ende. Er wird mich wie Mac über den Haufen rennen, und das ist das Ende.«
Das jagte mir einen ganz schönen Schrecken ein – am meisten, denke ich, sein gelassener Ton. Und gewöhnlich reagieren junge Leute auf Angst, indem sie einen Witz reißen oder vorlaut werden. »Solltest in dein Haus in der Stadt zurückziehen, wenn dir das keine Ruhe lässt, Onkel Otto«, sagte ich, und niemand hätte am Klang meiner Stimme gemerkt, dass ich die Hosen gestrichen voll hatte.
Er sah mich an … und dann den Lastwagen auf der anderen Straßenseite. »Kann nicht, Quentin«, sagte er. »Manchmal muss ein Mann einfach aushalten, bis es ihn holt.«
»Was denn, Onkel Otto?«, fragte ich, obwohl ich mir sicher war, dass er den Lastwagen meinte.
»Das Schicksal«, sagte er und zwinkerte mir wieder zu … aber die Angst stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben.
Mein Vater holte sich 1979 die Nierenkrankheit, die ein paar Tage vor seinem Tod noch abzuklingen schien. Während einer Reihe von Krankenhausbesuchen im Herbst jenes Jahres, sprachen mein Vater und ich über Onkel Otto. Mein Dad ahnte, was 1955 wirklich passiert sein könnte – sein harmloser Verdacht begründete meinen schwerwiegenden. Mein Vater hatte keinen Schimmer davon, wie ernst und tiefgreifend Onkel Ottos Besessenheit von dem Lastwagen geworden war. Ich schon. Er stand beinahe den ganzen Tag in seinem Hauseingang und sah ihn an. Sah ihn an wie ein Mann, der seine Uhr nicht aus den Augen lässt, um zu sehen, wie sich der Stundenzeiger bewegt.
Bis 1981 hatte Onkel Otto den letzten Funken Verstand verloren. Ein ärmerer Mann wäre schon längst eingewiesen worden, aber mit Millionen auf der Bank kann man sich in einer Kleinstadt eine Menge Verrücktheiten leisten, ganz besonders wenn genug Leute glauben, dass der Verrückte die Gemeinde in seinem Testament bedacht hat. Trotzdem redeten 1981 die Leute ernsthaft darüber, dass Onkel Otto zu seinem eigenen Besten eingeliefert werden sollte. Der platte, unheilvolle Ausdruck »vielleicht gemeingefährlich« trat gerade an die Stelle von »so verrückt wie eine Scheißhausratte«. Er hatte sich angewöhnt, zum Urinieren an den Straßenrand hinauszuschlurfen, anstatt nach hinten in den Wald zu gehen, wo sein Abort war. Manchmal schüttelte er, während er sich erleichterte, drohend die Faust gegen den Cresswell, und mehr als ein Autofahrer glaubte, dass Onkel Otto die Faust gegen ihn schüttelte.
Der Lastwagen mit den malerischen White Mountains im Hintergrund war eines, aber Onkel Otto, der am Straßenrand pinkelte, während seine Hosenträger an den Knien herunterbaumelten, war etwas anderes. Das war keine Touristenattraktion.
Ich trug mittlerweile öfter einen Anzug als die Jeans, die mich durch das College begleitet hatten, wenn ich
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