Blut - Skeleton Crew
hatte. Aber seine Gedanken blieben nicht bei der Sache. Er stand auf und ging wieder über den Flur. Die gelbe Hand war reglos. Omi schlief; ihr Gesicht ein grauer, eingefallener Kreis auf dem Kissen, eine sterbende Sonne, umgeben von der wirren gelblich-weißen Korona der Haare. Georges Meinung nach sah sie überhaupt nicht aus, wie Leute die alt waren und sich auf den Tod vorbereiten aussehen sollten. Sie sah nicht friedlich wie ein Sonnenuntergang aus. Sie sah verrückt aus und …
(und gefährlich)
… ja, okay, und gefährlich – wie eine alte Bärin, die vielleicht einen kräftigen Tatzenhieb in sich hatte.
George erinnerte sich noch gut daran, wie sie nach Castle Rock gekommen waren, um sich nach Opas Tod um Omi zu kümmern. Bis dahin hatte Mama in der Stratford-Wäscherei in Stratford, Connecticut, gearbeitet. Opa war drei oder vier Jahre jünger gewesen als Omi, Zimmermann von Beruf, und hatte bis zu seinem Todestag gearbeitet. Es war ein Herzinfarkt gewesen.
Schon damals war Omi senil geworden und hatte ihre »schlimmen Anfälle« gehabt. Sie war für ihre Familie immer eine Prüfung gewesen, das war Omi. Sie war ein Vulkan von einer Frau, hatte fünfzehn Jahre an einer Schule unterrichtet und zwischendurch Babys bekommen und Kämpfe mit der Kongregationalisten-Kirche ausgefochten, der sie und Opa und ihre neun Kinder angehörten. Mama erzählte, dass Opa und Omi zur selben Zeit aus der Kongregationalisten-Kirche in Scarborough ausgetreten waren, als Omi beschlossen hatte, das Unterrichten aufzugeben; aber einmal, vor etwa einem Jahr, als Tante Flo aus Salt Lake City zu Besuch gekommen war, hatten George und Buddy heimlich am Heizungsschacht gehorcht, als Mama und ihre Schwester sich bis spät in die Nacht unterhielten, und dabei eine andere Version gehört. Opa und Omi waren aus der Kirche ausgeschlossen und Omi gekündigt worden, weil sie etwas Falsches machte. Es hatte etwas mit Büchern zu tun. Wie oder warum jemand nur auf Grund von Büchern gekündigt und aus der Kirche ausgeschlossen werden konnte, verstand George nicht, und als er und Buddy in ihren Betten unter dem Dach zurückgeschlüpft waren, hatte er gefragt.
Es gibt alle Arten von Büchern, Señor El-Stupido, hatte Buddy geflüstert.
Ja, aber was für welche?
Woher soll ich das wissen? Schlaf jetzt!
Schweigen. George dachte darüber nach.
Buddy?
Was! Ein ärgerliches Zischen.
Warum hat Mama uns erzählt, dass Omi die Kirche und ihren Job gekündigt hat?
Weil das ein Skelett im Schrank ist, deshalb. Und jetzt schlaf endlich!
Aber er hatte nicht geschlafen, noch lange nicht. Seine Blicke schweiften immer wieder zur Schranktür, die im Mondlicht verschwommen zu sehen war, und er fragte sich, was er tun würde, wenn die Tür aufgehen und dahinter ein Skelett mit grinsenden Grabsteinzähnen und leeren Augenhöhlen und Rippen wie ein Papageienkäfig erscheinen würde; wenn weißes Mondlicht gespenstisch und fast blau über weißere Knochen gleiten würde. Würde er schreien? Was hatte Buddy gemeint, ein Skelett im Schrank? Was hatten Skelette mit Büchern zu tun? Schließlich war er eingeschlafen, ohne es zu merken, und hatte geträumt, er wäre wieder sechs und Omi streckte die Arme aus und suchte mit ihren blinden Augen nach ihm; Omis schnarrende, quengelige Stimme sagte: Wo ist der Kleine, Ruth? Warum weint er? Ich will ihn nur in den Schrank stecken … zu dem Skelett.
George hatte ausgesprochen lange über diese Probleme nachgedacht, und schließlich, etwa einen Monat nach Tante Flos Abreise, war er zu seiner Mutter gegangen und hatte ihr erzählt, dass er gehört hatte, sie sie sich mit Tante Flo unterhielt. Da wusste er, was ein Skelett im Schrank bedeutete, weil er Mrs. Redenbacher in der Schule gefragt hatte. Sie hatte gesagt, es hieß einen Skandal in der Familie zu haben, und ein Skandal war etwas, worüber die Leute eine Menge redeten. So wie Cora Simard eine Menge redet? hatte George gefragt, und Mrs. Redenbachers Gesicht hatte seltsam gezuckt, ihre Lippen hatten gezittert, und sie hatte gesagt: Das ist nicht nett, George, aber … ja, so in der Art.
Als er Mama gefragt hatte, war ihr Gesicht ganz still geworden, und ihre Hände hielten über der Patience inne, die sie legte.
Findest du es gut Georgie, so etwas zu machen? Gehört am Heizungsschacht zu horchen zu den Gewohnheiten von dir und deinem Bruder?
George, damals neun, hatte den Kopf hängen lassen.
Wir mögen Tante Flo, Mama. Wir wollten ihr ein
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