Blut - Skeleton Crew
denken, die sich ins Fleisch fraßen, die sich durchs Fleisch fraßen; an Augen, die sich im Dunkeln bewegten. Ja. Das war am schlimmsten. An Augen zu denken, die sich im Dunkeln bewegten, an das Knarren der Fußbodendielen, während etwas durch die Zebrastreifen aus Licht und Dunkelheit von draußen durchs Zimmer schlich. Ja.
Im Dunkeln drehen sich die Gedanken im Kreis, und woran man auch zu denken versuchte – Blumen oder Jesus oder Baseball oder den Gewinn einer Goldmedaille im vierhundert-Meter-Lauf bei der Olympiade –, irgendwie landete man wieder bei der Gestalt in den Schatten an der Wand, der Gestalt mit Krallen und starren Augen.
»Verdammte Scheiße!«, zischte er und schlug sich selbst ins Gesicht. Er machte sich selbst Muffensausen, das musste aufhören. Er war nicht mehr sechs. Sie war tot, das war alles, tot. Sie hatte keinen Gedanken mehr in sich, ebenso wenig wie eine Murmel oder ein Dielenbrett oder ein Türknopf oder eine Radioskala oder …
Und eine mächtige, fremde, unerwartete Stimme in ihm, vielleicht nur die unversöhnliche, ungebetene Stimme des einfachen Überlebensinstinkts, rief: Hör auf damit, Georgie, und kümmere dich um deinen Kram.
Ja, okay. Okay, aber …
Er ging zur Tür ihres Zimmers, um sich zu vergewissern.
Da lag Omi; ein Arm ruhig fast bis zum Boden, der Mund stand weit offen. Omi war jetzt Teil des Mobiliars. Man konnte ihren Arm auf das Bett zurücklegen oder sie an den Haaren ziehen oder ihr ein Wasserglas in den Mund schieben oder ihr Kopfhörer aufsetzen und volle Kanne Chuck Berry spielen lassen, und das würde ihr alles nichts ausmachen. Omi war, wie Buddy manchmal sagte, draußen. Omi hatte das Rennen hinter sich.
Ein plötzliches tiefes, rhythmisches dumpfes Geräusch setzte nicht weit links von George ein, und er zuckte zusammen und konnte einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken. Es war die Sturmtür, die Buddy erst letzte Woche eingehängt hatte. Nur die Sturmtür, die offen war und in der starken Brise hin und her schwang. George öffnete die innere Tür, beugte sich hinaus und bekam die Sturmtür zu fassen, als sie zurückschwang. Der Wind – es war keine Brise mehr, sondern Wind – ergriff sein Haar und – zerzauste es. Er verriegelte die Tür und fragte sich, wie so plötzlich Wind aufgekommen war. Als Mama wegfuhr, hatte fast völlige Windstille geherrscht. Aber als Mama weggefahren war, war es auch noch heller Tag gewesen, und jetzt war es dämmerig.
George sah wieder nach Omi, dann ging er zum Telefon und versuchte es noch einmal. Immer noch tot. Er setzte sich, stand auf, ging in der Küche auf und ab und versuchte nachzudenken.
Eine Stunde später war es völlig dunkel.
Das Telefon funktionierte immer noch nicht. George vermutete, dass der inzwischen böige Wind einige Leitungen beschädigt hatte, wahrscheinlich draußen beim Beaver Bog, wo die Bäume kreuz und quer zwischen Bruchholz und Morast wuchsen. Ab und zu klingelte das Telefon gespenstisch und fern, aber die Leitung blieb tot. Draußen heulte der Wind stöhnend um die Erker des kleinen Hauses, und George dachte, dass er beim nächsten Pfadfinderlager wirklich eine tolle Geschichte haben würde … wie er allein mit seiner toten Omi im Haus gewesen war, das Telefon nicht funktionierte und der Wind ganze Scharen von Wolken mit großer Geschwindigkeit über den Himmel trieb, Wolken, die oben schwarz waren und unten die Farbe von totem Talg hatten, wie Omis Krallenhände.
Es war, wie Buddy manchmal sagte, ein Klassiker.
Er wünschte, er würde sie jetzt schon erzählen und hatte das Erlebnis selbst schon gefahrlos überstanden. Er saß am Küchentisch, hatte das aufgeschlagene Geschichtsbuch vor sich, und zuckte bei jedem Geräusch zusammen … und jetzt, wo der Wind so stark war, gab es jede Menge Geräusche, denn das Haus knarrte in all seinen ungeölten, vergessenen, heimlichen Scharnieren.
Sie wird bald wieder zu Hause sein. Sie wird nach Hause kommen, und dann wird alles in Ordnung sein. Alles
(du hast sie nicht zugedeckt)
wird in Ord…
(hast ihr Gesicht nicht zugedeckt)
George zuckte, als hätte jemand laut gesprochen und starrte mit aufgerissenen Augen durch die Küche auf das nutzlose Telefon.
Man musste über das Gesicht eines Toten ein Tuch ziehen. So wurde es in allen Filmen gemacht.
Zum Teufel damit! Ich gehe nicht dort rein!
Nein! Warum sollte er auch? Mama konnte ihr das Gesicht zudecken, wenn sie heimkam! Oder Dr. Arlinder, wenn er kam! Oder der
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