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Blut und Harz

Blut und Harz

Titel: Blut und Harz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Leibig
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mehr bis zu ihrem Ziel. Ein unterdrückter Rülpser wand sich ihre Kehle empor, dann trampelte sie wieder los. Ihre Beine fühlten sich wie Pudding an, doch mit jedem Tritt wurde ihr Gefühl wieder fester.
    Der schmale Fußweg führte sie quer durch eine Wohnanlage; eine Abkürzung, auf der sie und Elias bei gutem Wetter öfters spazieren gegangen waren. Sie hatte zu ihrer eigenen Überraschung den kürzeren Weg direkt von Eriks Büro aus gefunden. Wenigstens ein kleiner Trost an diesem dunklen Tag.
    Tiefe Stille begleitete sie weiterhin – abgesehen vom Quietschen der Kette – doch irgendwo erhob sich ein dumpfes, lauter werdendes Brummen. Ein PKW rauschte wenig später in einiger Entfernung die Straße entlang, kreuzte für den Bruchteil einer Sekunde ihr Blickfeld. Dann umfing sie wieder die geisterhafte Stille des Herbstabends.
    Schwer atmend erreichte Natalja das Ende des Wohnblocks, bog vom Fußgängerweg in die Straße ein, wo Eriks Wohnhaus lag. Keine drei Minuten später umrundete sie den schlichten Betonpfosten mit der Hausnummer 8 aus Edelstahl, holperte über die mit Kopfsteinpflaster gepflasterte Einfahrt und kam direkt vor dem breiten Garagentor aus weißen Holzlammelen der Ritters zum Stehen.
    Alle Fenster im Gebäude gähnten ihr dunkel entgegen. Vorsichtig lehnte sie das Rad gegen die Fassade, spürte dabei den mittelfeinen Reibeputz unter ihren Fingern. Leise kramte sie den Hausschlüssel aus ihrer Jackentasche. Elias hatte ihn ihr am Morgen gegeben und sie hatte noch nicht die Gelegenheit gehabt, ihn zurückzugeben. Jetzt war sie froh darum.
    Ohne laute Geräusche zu verursachen sperrte sie zuerst die ins Garagentor eingelassene Türe auf. Sie wollte wissen, ob Eriks Mercedes hier war oder nicht. Im Inneren der Garage herrschte Finsternis, doch trotz der Dunkelheit war sofort zu erkennen, dass kein PKW an seinem Platz stand. Grimmig presste sie einen Fluch durch die Zähne. Wo zur Hölle waren Erik und der Rabe geblieben?
    Von der Garage aus betrat sie durch eine Metalltür einen Gang, der sie tiefer in die Stille des Hauses führte. Kein Geräusch war zu hören. Ihre Turnschuhe verursachten nicht den geringsten Laut, nicht einmal ein Knarzen oder Quietschen. Im Foyer angekommen, blieb sie horchend stehen. Doch das einzige was sie vernahm, war ihr eigener Herzschlag, der ihr in den Ohren klopfte.
    Hier war niemand. Sie spürte es. Doch die Ruhe war so unnatürlich, dass sie für einen Moment den Drang verspürte, aus dem Haus zu rennen oder laut zu rufen. Doch Natalja blieb eisern stehen. Sie nahm die Stille in sich auf, kämpfte mit Tränen, die ihr in die Augen stiegen. Sonst war hier immer jemand gewesen. Entweder Elias mit seinen herzhaften Scherzen, Erik mit seinem geschäftigen Treiben oder die Haushälterin mit ihrem Staubwedel. Aber nun dominierte die Abgeschiedenheit eines Mausoleums.
    Wahrscheinlich wurde das Gefühl von dem Wissen bekräftigt, dass Erik entführt und Elias im Koma lag, dachte Natalja. Erneut kämpfte sie gegen das monumentale Bedürfnis umzukehren.
    Entschieden schüttelte sie den Kopf. Sie musste wissen, ob der Rabe mit seinem Opfer hier gewesen war oder nicht. Vorher konnte sie nicht gehen.
    Ganz vorsichtig schlich sie Schritt für Schritt weiter ins Haus hinein. Sie erreichte den Wohnraum und wollte gerade die Beleuchtung anknipsen, als sie mit der Hand am Schalter verharrte. Sie hielt den Atem an. Was, wenn sich nun vor ihr ein Horrorszenario auftat? Ihr Kopfkino begann zu flimmern. Sie sah das weiße Sofa, bespritz mit dunkelroten Blutflecken und schleimiger Gehirnmasse, darauf der Leichnam von Erik, ohne Schädelplatte. Das Bild wechselte. Sie sah sich selbst, wie sie sich über den toten Erik beugte, während hinter ihr der Killer aus der Dunkelheit trat, eine glänzende Pistole mit Schalldämpfer in Händen. Die Szene veränderte sich erneut.
    Sie kniete nun bettelnd und wimmernd auf dem weichen Hochflorteppich. Der Geruch nach Blut und Exkrementen lag in der Luft. Der Lauf der Waffe ruhte auf ihrer Stirn, noch heiß von den Schüssen, mit denen Erik gerichtet worden war. Über ihr der Rabe, ganz in schwarz, mit undurchdringlichem Blick, ohne Reue, ohne Mitleid, ohne Angst, ohne Menschlichkeit. Eine brutale Tötungsmaschine, ein mechanischer Terminator, nur nicht in Form eines Schwarzeneggers. Sie sah, wie die behandschuhte Hand des Killers sich straffte, das dünne Leder knarzte und der Zeigefinger den gekrümmten Abzug mit einem Ruck nach hinten

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