Blut und Kupfer
einer liebevollen Umarmung. »Verzeiht.«
Marie hatte keine Zeit, sich zu sammeln, denn als sie aufsah, fand sie sich in Augen gefangen, die mehr verhießen als fürsorglichen Beistand, und sie öffnete erwartungsvoll die Lippen. Rubens Lippen wanderten zärtlich suchend über ihre Augen und den Wangenbogen, bis er die Süße ihres Mundes kosten konnte. Sein Kuss schmeckte hungrig, verlangend und gefährlich. Er schmeckte sehnsüchtig, und mit jedem Moment, den sie länger in seinen Armen lag, wusste sie, dass sie ihn schmerzlich vermissen würde, denn in diesen Kuss mischte sich bereits die Bitterkeit des Abschieds.
Das Klappern von Metall, das zu Boden fiel, brachte sie aus ihrer träumerischen Welt zurück in die nüchterne Wirklichkeit. Atemlos lehnten sie aneinander und lauschten dem Herzschlag des anderen, weil es der einzige bedeutungsvolle Laut war.
»Verzeiht«, sagte Ruben plötzlich leise, doch sie hörte das Lächeln in seiner Stimme.
»Ich glaube nicht, dass ich das kann.«
Ein tiefer Seufzer entfuhr Ruben, und er ließ seine Hände an ihren Schultern herabgleiten, und ein Frösteln überkam sie, als er sie gänzlich losließ. »Ich kann Euch nichts versprechen, weil ich Euch nichts bieten kann, nicht einmal meinen Namen.«
»Erklärt es mir.«
»Sallovinus hat mir meinen Namen gegeben. Ich war ein Straßenjunge, Abschaum. Es hat nicht viel gefehlt, und sie hätten mir eine Hand abgehackt. Ich habe gestohlen und betrogen, um zu überleben.«
»Wer könnte das einem Kind verdenken?«, sagte sie sanft, doch er schüttelte den Kopf.
»In Prag hatte ich eine Anstellung bei den Castruccis, doch man hält mich für den Mörder von Sallovinus. Ich bin nichts mehr! Keine Werkzeuge, keine Papiere, mein Gesellenstück, alles fort – ich habe nichts, und ich bin nichts.«
»Das ist Unsinn. Ich glaube nicht, dass Ihr mir die ganze Wahrheit sagt. Ihr seid hier, um Sallovinus’ Mörder zu finden, aber ich denke, da ist noch mehr.« Sie würde ihn nicht ohne Erklärung gehen lassen, dieses Mal nicht.
Er strich sich die Haare aus dem Gesicht und suchte nach den richtigen Worten. »Ich hatte eine Familie. Sie ist, man hat sie …« Er schluckte, und die Qual in seinem Blick zerschnitt ihr das Herz.
»Mein Vater wurde für ein Verbrechen verurteilt und hingerichtet, das er nicht begangen hat. Wir verloren alles, Besitz, Ehre und unseren guten Namen. Meine Mutter musste mit uns Kindern vor den mordlüsternen Häschern aus der Stadt fliehen. Verwandte meiner Mutter in Siebenbürgen wollten uns aufnehmen. Der Fluss war angeschwollen und die Fluten reißend. Ich kann das Seil noch sehen, das von den Wellen überspielt wurde, aber der Fährmann nahm das Geld von meiner Mutter, lud uns alle auf das Floß und sagte, es würde schon gut gehen. Es sollte seine letzte Überfahrt an jenem Abend sein. Die Moldau ist an manchen Stellen friedlich wie ein Bächlein, aber an anderen ist sie ein mächtiger Strom, der bei Unwetter alles verschlingt, was sich auf seine grauen Fluten wagt.« Er nahm ihre Hände, als bräuchte er Halt.
»Ich habe das noch nie jemandem erzählt. Die Schreie meiner Geschwister, das Weinen meiner Mutter, die meine Schwestern nicht festhalten konnte, das Brüllen des Fährmanns, als das Seil riss und wir alle von den kalten Wassermassen mitgerissen wurden. Sie sind alle ertrunken.«
»Oh nein!«, flüsterte sie.
Mit ausdrucksloser Miene fuhr er fort: »Über meine Rettung weiß ich nicht viel. Irgendwie habe ich überlebt, halbtot. Jemand hat mich aufgesammelt und auf einen Wagen geladen, fahrende Händler, die eine billige Arbeitskraft suchten. Es dauerte Wochen, bis ich fieberfrei und wieder einigermaßen bei Kräften war. Die Mistkerle hielten mir ständig vor, wie viel ich sie gekostet hatte, und ließen mich schuften wie einen Leibeigenen. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin heimlich fortgelaufen.«
»Wie alt wart Ihr damals?«
Er zuckte mit den Schultern. »Fünf oder sechs Jahre.«
»So jung … Und dann habt Ihr Aufnahme bei Verwandten gefunden?«
»Ich konnte mich nicht erinnern! Nicht an meinen Namen, nicht an mein Haus, die Stadt, aus der ich stammte … Lange habe ich mir nichts mehr gewünscht, als dass diese Erinnerungen zurückkehren, aber mit jedem neuen Bild mehrt sich der Hass auf denjenigen, der meine Familie vernichtet hat.« Ruben Sandracce atmete tief ein. »Noch habe ich keinen Frieden mit meiner Vergangenheit gefunden.«
»Das Leben ist süßer als
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