Blut und Kupfer
hatten Unruhe unter den Leuten gestiftet. Ihr Bruder hätte den hinterhältigen Schwaigbauern verjagen sollen. Unwillkürlich schaute sie zum Pranger neben dem Hoftor und strebte dem Gutshaus zu.
»Herrin, verzeiht!«, rief es plötzlich vom Tor.
Marie drehte sich um und sah den Torwächter winkend auf sie zulaufen. Der junge Knecht hielt ihr ein gefaltetes und zerknittertes Papierstück hin. »Das wurde eben von einem Jungen für Euch abgegeben.«
Erstaunt nahm sie das Papier, auf dem weder ihr Name noch ein Absender standen, und las: »Ich warte an der großen Weide am Fellbach auf Euch. Bitte kommt, es ist wichtig, wegen Berthe. Vroni.« Marie runzelte die Stirn. »Kennst du den Überbringer?«
Der Knecht, sichtlich stolz auf seine wachhabende Aufgabe, die ihm das Tragen einer Pistole und einer abgenutzten Hellebarde erlaubte, schüttelte den Kopf. »Wird einer von den umliegenden Höfen sein.«
Womöglich handelte es sich um eines der jüngeren Geschwister von Vroni oder Paul. »Wo ist der Junge denn hin?«
Der Knecht kratzte sich den verbeulten Filzhut. »Wäre es meine Aufgabe gewesen, ihn festzuhalten? Das wusste ich nicht.«
Marie überlegte kurz. Was sollte geschehen? Sie befand sich in Sichtweite des Gutes. »Was erzählt man über Vroni und Paul?«
Die Miene des Knechtes wurde verschlossen. »Über die sprechen wir nicht. Das bringt nur Ärger.«
Also hatte Vroni aus gutem Grund Angst, sich auf dem Gut sehen zu lassen. »Ich gehe kurz dort hinüber zum Fellbach, falls jemand fragt«, entschied Marie, deutete in Richtung eines Birkenhains und machte sich auf den Weg.
Als Kinder waren sie oft zur Weide gelaufen, um im Schutz der weit herabhängenden Zweige ihre Boote aus Baumrinde zu Wasser zu lassen. Weiden hatten einen besonderen Zauber. Wenn man inmitten der leise raschelnden Zweige stand, konnte man die Welt um sich herum vergessen. Entschlossen raffte Marie die Röcke ihres einfachen Kleides, folgte einem Trampelpfad bis zu einem brachliegenden Feld, sah zu, wie Aras durch die angrenzende Wiese rannte, und erreichte nach wenigen Minuten raschen Gehens die Birken, deren zartgrüne Kronen und silberne Stämme sie von allen anderen Bäumen unterschieden. Sie konnte das Wasser des Baches plätschern hören. Nach der Schmelze schwoll er manchmal kräftig an und überflutete die Umgebung. Sie überlegte noch, ob sie zwischen den Birken hindurchgehen sollte oder lieber dem Pfad folgte, denn der Boden innerhalb der Bäume konnte nass und morastig sein, als Aras plötzlich an ihr vorbeisprengte und zwischen den Bäumen verschwand.
Sie hörte ihn wütend knurren, jemand schrie, und dann jaulte ihr Hund schmerzvoll auf. »Aras! Lieber Himmel, was ist denn … Vroni? Bist du da? Vroni?«, schrie Marie und folgte dem kläglichen Hundejaulen. Dichtes Buschwerk versperrte ihr die Sicht, und der Boden war morastig. Bei jedem Schritt sank sie mit einem schmatzenden Geräusch ein, musste die Stiefel mit einem Ruck befreien und sich weiter vorkämpfen. Sie hörte Zweige brechen, jemand fluchte, schien den Bach zu durchqueren, und schließlich entfernte sich ein galoppierendes Pferd. Eine Falle, dachte Marie. Jemand hatte sie hier herausgelockt, und sie war wie das tumbe Opferlamm hineingetappt.
»Oh, du Armer!«, rief sie, als sie Aras erblickte, der sich mühsam durch das hohe Gras schleppte.
Als er sie erblickte, wedelte er kurz mit dem Schwanz und brach dann vor ihr zusammen. Hechelnd lag er auf der Seite und präsentierte ihr die Verletzung an seinem Hals. Ohne nachzudenken, riss Marie einen Streifen von ihrem Unterrock ab und wickelte ihn notdürftig um die blutende Wunde. Der kräftige Wolfshund war zu schwer, um ihn zu tragen. Sie streichelte dem Tier, das ihr soeben wohl das Leben gerettet hatte, den Kopf und erhob sich. »Halt durch, Aras. Ich hole Hilfe.«
Die halbgeschlossenen Hundeaugen und die flacher werdende Atmung waren beängstigend, und sie bahnte sich, so schnell es ihr möglich war, den Weg durch Büsche und Morast. Endlich erreichte sie festen Grund und rannte über die Wiese. Sie hatte das Feld zur Hälfte überquert, als sie Ruben durch das Hoftor kommen sah. Wild gestikulierend rief sie: »Holt einen Karren! Aras ist verletzt!«
Er schien sie nicht zu verstehen, winkte jedoch dem Knecht, ihm zu folgen, und rannte auf sie zu. Sie trafen sich am Rande des Ackers, wo er sie mit entsetzter Miene an den Armen packte. »Ihr blutet?«
»Nein, nein. Das ist von Aras.« Sie machte sich los
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