Blut und rote Seide
ich ihn aus der Fassung bringen.«
»Waren Sie etwa krank, Chef?« erkundigte sich Yu besorgt.
»Mir geht es bestens, machen Sie sich keine Gedanken«, sagte Chen und fragte dann beiläufig: »Peiqin hat sich doch letzte Woche mit diesem Tischmädchen unterhalten.«
»Ja, die Kassette mit dem Gespräch war bei den anderen, die ich Ihnen geschickt habe.«
»Ich hab sie mir angehört. Es war ein geschickter Schachzug, dem Mädchen zu erzählen, sie arbeite an einer Geschichte. Diesen Trick habe ich mir ausgeborgt.«
Yu erkannte, daß es sinnlos war, weitere Fragen zu stellen, und sah statt dessen auf die Wanduhr. Chen konnte einem mit seiner Heimlichtuerei wirklich auf die Nerven gehen. Noch immer hatte er kein Wort über seine rätselhafte Abwesenheit verloren. Aber Yu hatte jetzt anderes zu tun, er mußte zu Jia ins Büro. Von nun an würde er ihn nicht mehr aus den Augen lassen, nicht eine Minute.
Yu wollte gerade seine Jacke nehmen, als es erneut klopfte. Diesmal war es Weiße Wolke.
»Was kann ich für Sie tun, Oberinspektor?« fragte sie Chen und schenkte Yu ein strahlendes Lächeln.
»Haben Sie den roten qipao noch?« erkundigte sich Chen. »Den vom Markt am Stadtgott-Tempel?«
»Natürlich. War doch ein Geschenk von Ihnen.«
»Kommen Sie heute abend mit diesem Kleid ins Alte Herrenhaus. Sie wissen, wo das ist?«
»An der Hengshan Lu.«
»Gut. Könnten Sie den Abend dort verbringen? Vielleicht sogar die ganze Nacht?«
»Natürlich, wie Sie wünschen – als Ihre Kleine Sekretärin?«
»Nein, diesmal werden Sie eine andere Rolle spielen. Ich erkläre es Ihnen, wenn wir dort sind.«
»Wann erwarten Sie mich?«
»Gegen fünf. Sie müssen ja erst noch nach Hause, um das Kleid zu holen. Tut mir leid, die Sache mit dem Kleid ist mir eben erst eingefallen. Überseechinese Lu wird auch dasein.«
»Sehr gut. Sie kommen mir vor wie ein General aus alten Zeiten, der im Badehaus seine Entscheidungsschlacht plant«, kommentierte sie, ganz im Stil einer Kleinen Sekretärin, bevor sie sich verabschiedete.
Welche Pfeile hatte Chen noch im Köcher?
»Ich muß vorher in ein Fotostudio«, sagte er. »Heute nacht wird sich alles entscheiden.«
»Das haben Sie sich wohl alles in den letzten Tagen ausgedacht, Chef«, bemerkte Yu, als wollte er Abbitte leisten. »Da haben Sie einiges auf die Beine gestellt, während Sie in der Versenkung verschwunden waren.«
»Das meiste hat sich gestern nacht ergeben. Ich habe kein Auge zugetan und bin durch die Hengshan Lu gezogen wie ein Obdachloser.«
Yu würde seinen Vorgesetzten nie ganz verstehen, aber trotz all seiner Absonderlichkeiten war er ein gewissenhafter Polizist.
Es war eben doch etwas Besonderes, der Partner von Oberinspektor Chen zu sein, dachte Yu im Hinausgehen.
29
CHEN WAR SICH noch immer nicht sicher, wie er am Abend vorgehen sollte.
Er trat aus dem Fotostudio in die Dämmerung hinaus und dachte auf dem Weg zum Restaurant darüber nach.
Ihm blieb keine Wahl. Die beste Vorgehensweise wäre, davon war er auch weiterhin überzeugt, Jia bis nach der Gerichtsverhandlung unangetastet zu lassen. Eine Verhaftung vor der Verhandlung würde die Öffentlichkeit als unrechtmäßiges Eingreifen der Regierung interpretieren. Er mußte Jia die Nacht über festhalten, und sein diesbezüglicher Plan war so ungewöhnlich, daß er ihn Yu schwerlich erklären konnte. Sein Vorgehen glich der Metapher, die der Genosse Deng Xiaoping für Chinas Reformen geprägt hatte: »Durch den Fluß waten, indem man sich von Stein zu Stein tastet.«
Die Konfrontation durfte nicht länger hinausgeschoben werden, mit oder ohne Hilfe des Präsidiums.
Inspektor Liao würde sich von einem solchen Plan ohnehin distanzieren, nicht nur aus Selbstschutz, sondern aus einem tiefen Mißtrauen gegenüber dem Oberinspektor. Sie waren schon öfter aneinandergeraten. Und seit dem Tod von Hong hatte Liao ihn nicht ein einziges Mal angerufen.
Das nächste Problem wäre Parteisekretär Li, aber an den wollte Chen jetzt lieber nicht denken.
Und dann war da noch Direktor Zhong, die graue Eminenz im Hintergrund, die in der Verbotenen Stadt ihre Ränke schmiedete.
Jia würde sich nicht so leicht geschlagen geben. Als intelligenter und erfahrener Anwalt wußte er genau, daß ihm niemand etwas nachweisen konnte, solange er standhaft blieb.
Als Chen in die Jinling Xilu einbog, sah er eine Frau auf dem Gehweg Totengeld in einem Aluminiumbecken verbrennen. Fröstelnd in ihren dünnen schwarzen Stoffschuhen,
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