Blut und rote Seide
auf dem Foto an«, sagte Chen.
»Ja und?«
»Das ist Jia Ming.«
»Der Verteidiger im Verfahren um den Wohnungsbauskandal? Sie sagten mir doch, ich sollte …«
»Genau der. Er ist die Pechsträhne, die Jasmine und Tian verfolgt hat.«
»Mal angenommen, der Junge auf dem Foto ist Jia und damit Meis Sohn, dann hätte er ja ein Motiv«, sagte Yu, dem das Ausmaß dieser Erkenntnis erst allmählich dämmerte. »Aber er ist doch Rechtsanwalt, er hätte sich auf andere Weise rächen können.«
»Aus irgendwelchen Gründen hat er es aber nicht getan. Ich glaube, es liegt an den Umständen des Todes seiner Mutter. Er konnte sich diesem Alptraum nicht noch einmal aussetzen. Deshalb hat er auf andere Weise Rache genommen. Vermutlich steckte er hinter den Beschwerden und hat die Briefe an den Kader der Stadtregierung geschickt.«
»Auch die Bilder von Tians Exfrau, und wer weiß, was noch alles.« Yu nickte. »Jetzt fügt sich alles zusammen. Diese altmodischen, handgenähten qipaos . Und der Name ›Rote Fahne der Kulturrevolution‹, so hießen doch die Arbeiterrebellen, denen Tian angehörte. So war auch die Anzeige in der Zeitung unterzeichnet. Dann der Fundort der ersten Leiche – genau gegenüber dem Konservatorium. Aber hätte er Jasmine nicht schon viel früher umbringen können?«
»Das schon, aber ein rascher Schlag hätte ihm nicht so viel Befriedigung gebracht wie eine ganze Serie kleiner Hiebe.«
»Mag sein. Aber warum hat er ausgerechnet jetzt zugeschlagen?«
»Darauf habe ich auch noch keine Antwort. Allenfalls eine Vermutung …«
»Und was ist mit den anderen Mädchen?«
»Da sind mehrere Erklärungen denkbar. Im Moment habe ich nur eine Theorie, und die ist lückenhaft.«
»Lassen Sie trotzdem hören.«
»Nach dem Tod seiner Mutter wuchs Jia als Waise auf, Rache war sein einziger Lebenssinn, und er beschloß, die Rechnung auf seine Art zu begleichen.«
»Nach dem Motto: Du hast meine Mutter getötet, also bringe ich deine Tochter um«, warf Yu ein.
»Es war nicht nur Vergeltung für den Tod seiner Mutter. Jia ist von diesem Erlebnis so traumatisiert, daß er kein normales Leben mehr führen kann …«
»Wie meinen Sie das?«
»Ein normales Leben als Mann. Er kann mit keiner Frau mehr schlafen. Jia war für Tian und Jasmine genauso ein Fluch, wie Tian es für Jia und seine Mutter gewesen ist. Wenn man andere in gleicher Weise leiden sieht, wie man selbst gelitten hat, so kann das zu einer Katharsis führen. Aber Rache hat ihren Preis.«
»Könnten Sie mir das genauer erklären, Chef?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Chen zog die Aktentasche zu sich heran, öffnete sie aber nicht. »Nur soviel: Die Tatsache, daß Jia Zeuge des Geschlechtsverkehrs von Tian und seiner Mutter wurde, hat ihn quasi entmannt und sein Leben damit zur Hölle gemacht. Also wollte er seinen Widersachern ähnliches Leid zufügen. Sein ursprünglicher Plan sah vor, Jasmine ein elendes Leben zu bereiten. Doch ihr Plan, zu heiraten und in die Staaten zu gehen, hat den seinen durchkreuzt und wurde zum Auslöser für den Mord. Er mußte seine Rache vollenden. Das ist nur ein mögliches Szenario. Vieles in diesem Fall entzieht sich einer rationalen Erklärung.«
»Egal, wie es ablief, wir müssen handeln«, sagte Yu. »Wenn er es ist, wird er erneut zuschlagen …«
Wieder klopfte es. Diesmal kam Xia persönlich mit einem zugedeckten Bambuskorb herein.
»Sie und Ihr Partner haben ja noch gar nicht gegessen«, sagte sie.
Der Korb enthielt mehrere delikate Gerichte: gepulte Krabben mit grünen Teeblättern, Tintenfisch zusammen mit Schweinefleisch geschmort, Froschschenkelmedaillons sowie ein Blattgemüse, das Yu nicht kannte. Dazu gab es zwei kleine Schälchen mit etwas, das aussah wie sämige Nudelsuppe.
»Das ist aber sehr aufmerksam von Ihnen, Xia«, sagte Chen.
»Ach, hier habe ich noch etwas für Sie.« Sie steckte ihm einen kleinen Umschlag zu. »Eine VIP-Karte, damit Sie uns in Zukunft öfter beehren.«
Yu bemerkte, wie ihre Finger kurz Chens Handrücken streiften, und fragte sich, was der Umschlag wirklich enthielt.
»Diese Glasnudeln sind nicht schlecht, aber viel zu kurz. Die muß man ja mit dem Löffel essen«, kommentierte Yu, nachdem Xia gegangen war. »Woher kennen Sie Xia eigentlich.«
»Was Sie da als Glasnudeln bezeichnen, sind Haifischflossen. Ein Schälchen wie dieses hier kostet fünf- bis sechshundert Yuan. Aber lassen Sie sich den Appetit nicht verderben«, sagte Chen und nahm einen Löffel
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