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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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Eltern des Jungen arbeiteten am Shanghaier Konservatorium, er war ihr einziges Kind. Ganz besonders fühlte er sich zu seiner Mutter hingezogen, einer schönen und begabten jungen Frau, die ihn ihrerseits abgöttisch liebte.
    Und sie war wirklich etwas Besonderes. Es hieß, daß viele ihre Konzerte nur besuchten, um sie zu sehen. Sie hielt sich vernünftigerweise bedeckt, dennoch wurde ein Fotograf auf sie aufmerksam. Schließlich willigte sie ein, sich ablichten zu lassen, aber um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, sollte das Bild zusammen mit ihrem Sohn im Garten aufgenommen werden. Es muß ein glücklicher Morgen für den kleinen J. gewesen sein, wie er da Hand in Hand mit ihr posierte, während der Fotograf den Charme des Motivs nicht genug loben konnte. Es war der seligste Augenblick seines Lebens, der hier zusammen mit ihrem strahlenden Lächeln festgehalten wurde.
    Bald darauf brach die Kulturrevolution aus, und J.s Familie mußte Schreckliches durchmachen …«
    Der Bericht wurde unterbrochen, als Weiße Wolke die vier kalten Vorspeisen des Spezialmenüs hereinbrachte.
    »Gebratene Spatzenzungen, eingelegte Gänsefüße, geschmorte Ochsenaugen und mit Ingwer gedämpfte Fischlippen«, verkündete sie. »Die Gerichte gehen auf Rezepte zurück, die von den ursprünglichen Besitzern der Villa stammen.«
    Lu hatte bei der Zusammenstellung besonders grausamer Gerichte offenbar weder Kosten noch Mühen gescheut. Für dieses winzige Gericht hatten Hunderte von Vögeln ihr Leben lassen müssen, und die durchscheinenden Fischlippen wirkten in ihrem zarten Rot so lebendig, als wollten sie gleich nach Luft schnappen.
    »Diese Gerichte erinnern mich an meine Geschichte, an etwas ähnlich Grausames darin«, bemerkte Chen. »Kein Wunder, daß schon Konfuzius riet: Der Edle soll sich vom Töten und der Speisenzubereitung in der Küche fernhalten. «
    Ganz wie beabsichtigt, zeigte Jia erste Anzeichen von Irritation.
    »Das Bild zeigt J. also in einem Augenblick höchsten Glücks, kurz bevor es ihm für immer verlorenging«, fuhr Chen fort und nahm sich eine knusprige Spatzenzunge. »Sein Großvater starb, sein Vater beging Selbstmord, seine Mutter war brutaler Massenkritik ausgesetzt, und er selbst wurde als ›schwarzer Welpe‹ abgestempelt. Man vertrieb seine Mutter und ihn aus der Villa, sie mußten künftig in der Dachkammer des Garagenanbaus hausen. Und dann passierte etwas.«
    »Was denn?« fragte Jia, dessen Stäbchen über den Ochsenaugen leise zu zittern begannen.
    »Ich komme jetzt zum entscheidenden Abschnitt der Geschichte«, sagte Chen, »bei dem mir Ihre Einschätzung besonders wichtig ist. Am besten, ich lese ihn direkt aus meinem Manuskript vor – das ist detailgetreuer und lebendiger.«
    Chen zog sein Notizbuch hervor, in das er sich vorige Nacht im Club und später in der Imbißbude einige Stichpunkte notiert hatte. Jia, der ihm gegenübersaß, hatte keinen Einblick in das Heft. Chen räusperte sich und begann seine Improvisation:
    »Es begann damit, daß jemand einen konterrevolutionären Slogan an der Gartenmauer des Anwesens entdeckte. J. hatte ihn weder dort hingeschrieben, noch wußte er etwas darüber, wurde aber von den ›revolutionären‹ Bewohnern des Haupthauses natürlich als erster verdächtigt. Man unterzog ihn der sogenannten Isolationsbefragung im Hinterzimmer des Nachbarschaftsbüros. Abgesehen von den Verhören durch Mitglieder des Nachbarschaftskomitees und einen Fremden namens Tian vom Propagandatrupp des Konservatoriums, hatte er keinerlei Kontakt zur Außenwelt. Sie würden ihn so lange behalten, bis er sein Verbrechen eingestand. Nur der Gedanke an seine Mutter ließ ihn durchhalten. Er war entschlossen, sie nicht in Schwierigkeiten zu bringen oder im Stich zu lassen. Deshalb gestand er nicht, noch folgte er dem Vorbild seines Vaters. Solange sie da draußen auf ihn wartete, konnte er glauben, dort existiere jene Welt, die auf dem Bild im Garten festgehalten worden war.
    Doch es war sehr schwer für den kleinen Jungen, denn er wurde zu allem Übel auch noch krank. Eines Nachmittags kam dann plötzlich ein Nachbarschaftskader und sagte ihm, er könne nach Hause gehen.
    Er rannte, so schnell er konnte, wollte sie überraschen. Lautlos stieg er die Treppe hinauf und öffnete voll Vorfreude auf das Wiedersehen die Tür mit seinem Schlüssel. Er wollte sich ihr in die Arme werfen, wie er es sich in dem dunklen Raum immer wieder ausgemalt hatte.
    Doch zu seinem Entsetzen sah er seine

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