Blut und rote Seide
eine geöffnete Speisenkarte vor. Sie trug ein ärmelloses, rückenfreies schwarzes Kleid.
»Auf unsere höchst außergewöhnliche Geschichte, Herr Jia«, sagte Chen und hob seine Teeschale.
»Halten Sie das Schreiben von Geschichten wirklich für bedeutsamer als Ihre Polizeiarbeit?« entgegnete Jia.
»Bedeutung existiert nur in unserer Vorstellung. Sie werden vielleicht wissen, daß Dichtung während meiner Studienjahre höchst bedeutungsvoll für mich war.«
»Nun, ich bin Anwalt, ich denke da geradliniger.«
»Gerade der Beruf des Anwalts kann meine Aussage illustrieren. Was Sie an einem Fall für wichtig erachten, kann für einen anderen völlig bedeutungslos sein. Bedeutung ist heutzutage eine Frage individueller Perspektive.«
»Das klingt wie eine Vorlesung, Oberinspektor Chen.«
»Für mich hat die Geschichte einen kritischen Punkt erreicht, an dem es gewissermaßen um Leben und Tod geht«, sagte Chen. »Deshalb dachte ich, dieser Garten gäbe einen friedvollen Hintergrund für unser Gespräch ab.«
»Bei Ihnen scheint alles gute Gründe zu haben.« Jias Gesichtsausdruck ließ keinerlei Irritation erkennen, als er den Blick kurz über den Garten schweifen ließ. »Es ehrt mich, Ihr Gast zu sein, ganz gleich, ob es der Schriftsteller oder der Oberinspektor ist, der mich einlädt.«
»Ich bin noch gar nicht hungrig. Vielleicht könnten wir uns vorab ein wenig unterhalten.«
»Von mir aus gern.«
»Sehr gut«, sagte Chen und wandte sich an Weiße Wolke, »wir nehmen das Spezialmenü für zwei. Vorerst benötigen wir Sie nicht.«
»Ich halte mich draußen bereit. Sie brauchen nur zu läuten.«
»Und jetzt zu der Geschichte«, begann Chen und sah Weißer Wolke nach, deren langes schwarzes Haar fließend über den nackten Rücken fiel. »Ich muß vorausschicken, daß sie noch kein Ende hat. Auch habe ich für einige Figuren bisher keine endgültigen Namen gefunden. In den Krimis, die ich übersetzt habe, wird eine nicht identifizierte Person der Einfachheit halber immer John Doe genannt. Deshalb habe ich meinen Protagonisten vorerst J. getauft.«
»Interessant! Auch mein Name beginnt in Lautschrift mit einem J.«
Jia bewahrte nicht nur Haltung, er bewies sogar einen gewissen Galgenhumor. Chen hatte nicht vor, mit der Tür ins Haus zu fallen. Er wollte eher wie beim Tai Chi vorgehen, wo man den Gegner mit minimalem Druck in Schach hielt. Er holte die Zeitschrift aus der Tasche und legt sie auf den Tisch.
»Die Geschichte begann mit diesem Foto hier.« Mit lässiger Bewegung schlug Chen die entsprechende Seite auf. »Und zwar in dem Moment, als die Aufnahme gemacht wurde.«
»Tatsächlich!« erwiderte Jia und hob dabei unwillkürlich die Stimme.
»Man kann eine Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen, aber in unserem Fall ist die dritte Person naheliegend, da die Geschichte noch nicht abgeschlossen ist. Was meinen Sie?«
»Ganz wie Sie möchten. Sie sind schließlich der Erzähler. Wie ich höre, war Ihr Hauptfach Literaturwissenschaft. Ich frage mich, weshalb Sie Polizist geworden sind.«
»Den Umständen gehorchend. Anfang der achtziger Jahre wurden den Hochschulabgängern ihre Arbeitsstellen vom Staat zugeteilt, und man hatte selbst wenig Einfluß darauf, wo man landete. Natürlich träumten wir in der Kindheit von ganz anderen Berufen. Ging es Ihnen nicht auch so?« Chen deutete auf das Foto. »Es wurde Anfang der Sechziger aufgenommen. Ich war damals vermutlich ein paar Jahre jünger als J., der Junge auf dem Foto. Sehen Sie nur, wie glücklich und stolz er ist. Und er hat allen Grund dazu: eine bildhübsche, hingebungsvolle Mutter und das Halstuch der jungen Pioniere, das in der Sonne erstrahlt und eine hoffnungsvolle Zukunft für ihn und das sozialistische China verheißt.«
»Für einen Oberinspektor haben Sie eine erstaunlich lyrische Ausdrucksweise. Aber fahren Sie doch mit Ihrer Geschichte fort.«
»Sie trug sich in einer Villa wie dieser zu, in einem Garten, der dem hier ähnelte, nur daß damals Frühling war. Wie der Zufall will, war dieses Restaurant ja früher auch eine Privatvilla.
Zu jenem Zeitpunkt begann sich das politische Klima bereits zu verändern. Mao redete von Klassenkampf und der Diktatur des Proletariats und leitete damit die Kulturrevolution ein. Dennoch genoß J. eine behütete Kindheit. Sein Großvater, vor 1949 ein erfolgreicher Bankier, konnte weiterhin von seinen Zinsen leben und seiner Familie einen üppigen Lebensstil ermöglichen. Beide
Weitere Kostenlose Bücher