Blut und rote Seide
da einen großen Unterschied. Der Graf von Monte Christo konnte zumindest sein Leben weiterführen, während das von J. allein durch Rache bestimmt war.«
»Hier hätte ich einen Einwurf«, sagte Jia, während er eine Fischlippe mit den Stäbchen zerriß, sie dann aber nicht zum Mund führte. »Der J. in Ihrer Geschichte ist ein erfolgreicher Anwalt und dabei recht wohlhabend. Wieso sollte er kein eigenes Leben führen können?«
»Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen aus beruflicher Frustration. Als Rechtsanwalt mußte er erkennen, daß er nicht wirklich Gerechtigkeit schaffen konnte. Der Ausgang wichtiger Verhandlungen wurde auch weiterhin von Parteiinteressen bestimmt. Und später, als in den neunziger Jahren Korruption alle Bereiche der Gesellschaft durchdrang, dominierten die Interessen des Kapitals. Seine Karriere als Anwalt wurde zwar immer lukrativer, doch seine idealistische Leidenschaft erwies sich dabei als bedeutungslos, wenn nicht gar hinderlich.«
»Wie können Sie so etwas sagen, Oberinspektor Chen? Als erfolgreicher Polizist haben doch auch Sie all die Jahre für Gerechtigkeit gekämpft. Wollen Sie etwa behaupten, daß auch Sie desillusioniert sind?«
»Offen gestanden ist das der Grund, warum ich mich für den Literaturkurs eingeschrieben habe, für den ich unter anderem diese Geschichte schreibe.«
»Das erklärt, warum ich Ihren Namen schon länger nicht mehr in der Zeitung gelesen habe.«
»Sie haben sich also für mich interessiert, Herr Jia?«
»Nun, die Zeitungen sind voll von Berichten über den Serienmord. Immer wieder war auch von Polizeibeamten die Rede, und Sie gelten als anerkannter Star der Szene.« Hier hob Jia seine Teeschale in spöttischer Reverenz. »Daher habe ich Sie gewissermaßen vermißt.«
»Was J. anbelangt, so dürfte der zweite Grund allerdings wichtiger sein«, fuhr Chen fort, ohne auf Jia einzugehen, der sich offenbar von seinem ersten Schock erholt hatte. »Er ist nämlich impotent – ein schwerer Fall von Ödipus-Komplex. Ansonsten ein gesunder Mann, fällt die Erinnerung an den besudelten Körper seiner Mutter jedesmal wie ein dunkler Schatten auf seine körperliche Begierde. Trotz seiner beruflichen Erfolge kann er deshalb kein normales Leben führen. Seine Normalität ist für immer mit jenem Moment verknüpft, als er Hand in Hand mit ihr für die Aufnahme posierte. Doch dieses Bild ist mit ihrem Sturz auf der Treppe unwiederbringlich zerstört. Und der Versuch, das Geheimnis zu wahren und gegen den Dämon anzukämpfen, hat ihn völlig ausgelaugt …«
»Sie hören sich an wie ein Profi, Oberinspektor Chen«, sagte Jia sarkastisch. »Ich wußte gar nicht, daß Sie auch Psychologie studiert haben.«
»Ich habe das eine oder andere Fachbuch zum Thema gelesen, aber Sie wissen sicher viel mehr darüber. Deshalb ist mir Ihre Meinung ja auch so wichtig.«
Wieder klopfte es leise an der Tür. Weiße Wolke kam mit einem großen Tablett herein, auf dem ein gläserner Topf, eine Glasschüssel mit Krabben und ein kleines Öfchen standen. Die Krabben waren in eine Soßenmischung eingelegt, zappelten aber heftig unter dem Glasdeckel. In dem Öfchen lag eine Schicht Kiesel über rotglühender Holzkohle. Zunächst schüttete Weiße Wolke die heißen Kiesel in den gläsernen Topf, anschließend die Krabben. In dem zischenden Qualm verfärbten sich die hüpfenden Krabben augenblicklich rot.
»Genau wie seine Opfer«, bemerkte Chen. »Ohne ihr Unglück zu verstehen, trachten sie danach, ihm zu entkommen.«
»Sie haben sich ja schwer ins Zeug gelegt mit dieser Einladung, Oberinspektor Chen.«
»Ich komme nun zum Höhepunkt der Geschichte. Hier fehlt mir noch das eine oder andere Detail, weshalb sich der Text vielleicht nicht ganz so flüssig liest:
Verzweifelt hinter Gitterstäben hin- und hertrottend wie ein gefangenes Tier, beschloß er, eine höchst kontroverse Verteidigung anzunehmen, auch wenn es ihn seine berufliche Karriere kosten würde. In China muß ein Anwalt auf gutem Fuß mit der Regierung stehen, doch dies ist ein Fall, der dem Ansehen der Regierung schaden und einige hohe Parteikader, die in den Wohnungsbauskandal verwickelt sind, an dem Pranger stellen wird. Andererseits würde er einer Gruppe mittel- und hilfloser Bürger zu ihrem Recht verhelfen können. Vielleicht war das ein verzweifelter Versuch, seinem Leben einen Sinn zu geben, oder er hat den Fall aus selbstzerstörerischen Impulsen übernommen, jedenfalls wurden seine inneren Spannungen
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