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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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andere demütigt.«
    Kleiner Zhou war nicht der einzige, der seiner Phantasie freien Lauf ließ.
    Erst heute, bei der morgendlichen Besprechung im Büro von Parteisekretär Li, hatte Inspektor Liao es mit einem neuen Ansatz versucht.
    »Neben unseren bisherigen Annahmen über den Täter halte ich es für wahrscheinlich, daß er über eine Garage verfügt. In Shanghai dürften allenfalls etwa hundert Familien eine eigene Garage besitzen«, hatte Liao erklärt. »Die könnten wir einzeln befragen.«
    Doch Li war dagegen gewesen. »Und wie stellen Sie sich das vor? Wollen Sie vielleicht ohne Durchsuchungsbefehl an allen Türen klingeln? Nein, das würde nur noch mehr Panik erzeugen.«
    Die Besitzer von Privatgaragen waren entweder Neureiche mit guten Verbindungen oder hochrangige Parteikader, überlegte Yu. Liaos Vermutung nachzugehen würde also bedeuten, die Fliege auf dem Kopf des Tigers zu erschlagen. Zu so etwas würde Li nie seine Einwilligung geben.
    Nach der Besprechung hatte Yu beschlossen, sich in Jasmines Nachbarschaft umzusehen, ohne Liao davon zu unterrichten. Er hatte das Gefühl, daß sich das lohnen würde, zumal die Unterschiede zwischen ihr und dem zweiten Opfer nicht von der Hand zu weisen waren. Zum Beispiel die Tatsache, daß ihre Leiche Prellungen aufwies und anschließend gewaschen worden war; beides deutete auf den Versuch hin, eine Vergewaltigung zu vertuschen. Das zweite Mädchen, ein sehr viel wahrscheinlicheres Opfer eines Sexualmords, zeigte dagegen keinerlei Spuren eines Geschlechtsverkehrs unmittelbar vor ihrem Tod. Auch war diese Leiche nicht gewaschen worden.
    Es war kurz vor Mittag, als er die Straße unweit des alten Stadtzentrums erreichte, in der Jasmine gewohnt hatte: Eine lange, schäbige Gasse, die von der Shantou Lu abging und von der Stadtsanierung offenbar übersehen worden war.
    Er fühlte sich in seine eigene frühere Wohngegend zurückversetzt. Am Eingang der Gasse begrüßten ihn einige zum Lüften aufgestellte hölzerne Nachttöpfe; zwei Frauen schwatzten angeregt, während sie den Boden mit Bambusbesen fegten. Solche Szenen kamen ihm bekannt vor.
    Das Nachbarschaftskomitee befand sich am anderen Ende der Gasse. Der Leiter, Onkel Feng, empfing ihn in seinem winzigen Büro und goß ihm Tee ein.
    »Sie war ein braves Mädchen«, begann Onkel Feng kopfschüttelnd, »trotz all der Probleme zu Hause.«
    »Was für Probleme?« erkundigte sich Yu, der bisher nur in Liaos verkürzter Version davon gehört hatte.
    »Vergeltung, nichts als Vergeltung. Ihr Vater hat es nicht besser verdient, aber um sie ist es jammerschade.«
    »Könnten Sie mir das genauer erklären, Onkel Feng?«
    »Tian, ihr Vater, hat sich während der Kulturrevolution hervorgetan und ist anschließend entsprechend tief gefallen: arbeitslos, inhaftiert, gelähmt. Er war eine furchtbare Last für sie.«
    »Was hatte er denn verbrochen?«
    »Er gehörte den Arbeiterrebellen an, trug deren Armbinde und hat hemmungslos Leute terrorisiert und zusammengeschlagen. Dann wurde er Mitglied von Maos Arbeiterpropagandatrupps. Sie wissen ja, wie mächtig die seinerzeit waren.«
    Yu wußte das nur zu gut. Die Mao-Zedong-Gedanken-Arbeiterpropagandatrupps – kurz Mao-Trupps – waren ein Produkt der Kulturrevolution. Zunächst hatte Mao Schüler als Rote Garden losgeschickt, die seine parteiinternen Gegner schwächen sollten, doch die Roten Garden hatten sich verselbständigt und schließlich auch Maos eigene Machtbasis in Frage gestellt. Daraufhin hatte er erklärt, daß der Arbeiterschaft die führende Rolle in der Kulturrevolution zukomme, und die Mao-Trupps in die Schulen geschickt, wo sie Schüler und Lehrer mit eiserner Faust zur Raison bringen sollten. Einer von Yus Lehrern war von ihnen zum Krüppel geschlagen worden.
    »Er wurde bestraft«, fuhr Onkel Feng fort. »Aber in jenen Jahren gab es Millionen solcher Rebellen. Er hatte eben das Pech, daß an ihm ein Exempel statuiert wurde. Man hat ihn zu zwei oder drei Jahren Gefängnis verurteilt. Wenn das nicht Karma ist!«
    »Aber Jasmine war doch damals noch klein.«
    »Ja, höchstens fünf oder sechs Jahre alt. Sie lebte einige Jahre bei ihrer Mutter und ist erst nach deren Tod wieder zu ihrem Vater gezogen. Tian hat sich nie richtig um sie gekümmert. Dann hat ihn vor ein paar Jahren dieser Schlaganfall erwischt.« Hier nahm Onkel Feng einen großen Schluck von seinem Tee. »Sie dagegen hat ihn vorbildlich versorgt. Es war ja nicht einfach, sie mußten jeden Fen

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