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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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umdrehen. Er bekam weder eine Rente noch medizinische Versorgung. Wegen ihm hatte sie auch keinen Freund.«
    »Wegen dem alten Herrn? Aber wieso denn?«
    »Sie wollte ihn nicht allein lassen. Ein potentieller Verehrer hätte ihn mit versorgen müssen. Das wollte natürlich niemand.«
    »Kann man sich vorstellen.« Yu nickte. »Hatte sie Freundinnen hier in der Gasse?«
    »Auch das nicht. Sie hatte kaum Kontakt zu den anderen jungen Mädchen. Neben ihrer Anstellung und all der Hausarbeit blieb ihr dazu keine Zeit. Außerdem hatte sie, soviel ich weiß, auch noch Nebenjobs.« Onkel Feng stellte sein Teeglas ab. »Ich bringe Sie hin, dann können Sie sich selbst ein Bild machen.«
    Onkel Feng führte Yu zu einem alten shikumen -Haus im mittleren Abschnitt der Gasse. Er stieß eine Tür auf, und sie standen unvermittelt in einem Raum, der offensichtlich vom Hof abgeteilt worden war. In der Mitte stand ein unordentliches Bett, eine Leiter führte auf eine später eingezogene Zwischendecke. Außer einem kalten Ofen und einem nicht abgedeckten Nachttopf gab es kein Mobiliar. Dieser Raum war in den letzten Jahren Tians Welt gewesen, der Mann lag ausgestreckt auf dem Bett und starrte zur Decke.
    Nur verständlich, daß Jasmine nicht viel Zeit zu Hause verbracht hatte, dachte Yu, während er ihrem Vater zunickte.
    »Das ist Tian.« Onkel Feng deutete auf den zum Skelett abgemagerten Kranken. Nur seine Augen folgten den Besuchern durch den Raum. »Tian, das ist Genosse Hauptwachtmeister Yu vom Shanghaier Polizeipräsidium.«
    Als Erwiderung zischelte Tian Unverständliches.
    »Sie war die einzige, die ihn verstanden hat«, erklärte Feng. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Wir leben schließlich nicht mehr in den Zeiten von Lei Feng, niemand folgt mehr dem Beispiel des selbstlosen kommunistischen Vorzeigehelden.«
    Yu fragte sich, ob Tians Geist klar genug war, um das Gespräch zu verstehen. Vielleicht war es besser, wenn er nichts mitbekäme. Ein gedankenloser Dämmerzustand wäre der Trauer um die Tochter und der Aussicht auf das eigene unausweichliche Ende mit Sicherheit vorzuziehen. Was immer er während der Kulturrevolution getan haben mochte, er hatte dafür gebüßt.
    Yu zog die Leiter heran und kletterte vorsichtig zur Zwischendecke hinauf.
    »Dort oben hatte sie sich eingerichtet«, erklärte Onkel Feng von unten. Die Leiter war zu gefährlich für ihn.
    Es war nicht einmal ein richtiger Dachboden, nur eine Art selbstgezimmerte Plattform oberhalb von Tians Bett, das den Raum fast ganz ausfüllte. Als erwachsene Tochter brauchte sie eine gewisse Privatsphäre, doch Yu konnte hier oben nicht einmal aufrecht stehen. Es gab kein Fenster, und er tastete in der Dunkelheit nach dem Lichtschalter. Im Schein einer Lampe sah er eine bloße Matratze, daneben einen Spucknapf aus Plastik, der ihr vermutlich als Nachttopf gedient hatte. Dann stand da noch eine rohgezimmerte Holzkiste. Er hob den Deckel, fand aber nur einige Kleidungsstücke, die meisten billig und unmodern.
    Es war sinnlos, sich länger hier aufzuhalten. Er kletterte hinunter, ohne weitere Fragen an Feng zu richten. Er würde kaum etwas zur Aufklärung des Falls beitragen können.
    Draußen verabschiedete er sich von dem Nachbarschaftspolizisten und verließ die Gasse. Sein Besuch hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.
    Ein Mädchen, das sich für ein solches Leben entschieden hatte, war kein typisches Opfer für ein Sexualverbrechen oder gar einen Serienmord.
    Statt in sein Büro zurückzukehren, ging Yu zu dem Hotel, wo Jasmine gearbeitet hatte. Das Kranich war keine Nobelherberge, galt aber wegen seiner zentralen Lage in der Altstadt und der günstigen Preise als heißer Tip unter Rucksacktouristen. Die Lobby bevölkerte eine Gruppe ausländischer Studenten. Der Empfangschef in scharlachroter Uniform machte einen kompetenten Eindruck, in fließendem Englisch beantwortete er die Fragen seiner Gäste. Als er jedoch Yus Polizeiausweis sah, kam er ins Stottern. Rasch führte ihn in sein Büro und schloß die Tür.
    »Bitte lassen Sie das, was wir hier besprechen, nicht an die Presse durchdringen. Die Medien dürfen auf keinen Fall von der Verbindung des Hotels zu den qipao -Morden erfahren, sonst können wir zumachen. Die Leute sind abergläubisch und wollen nicht in einem Hotel wohnen, dessen Mitarbeiterin eines gewaltsamen Todes gestorben ist.«
    »Verstehe«, sagte Yu. »Aber jetzt erzählen Sie mir erst einmal, was Sie über die Tote

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